Eine kleine Geburtstagsgeschichte
Frau Henni ging in den Keller, um Zwiebeln und Kartoffeln für das Mittagessen zu holen. Sie nutzte diese Gelegenheit dazu, ins ehemalige Zimmer ihres jüngsten Sohnes zu gehen, das sich die beiden Alten, Henni und Herwig, als Studierzimmer eingerichtet hatten, um auf dem Bildschirm ihres PCs die Emails zu checken und zu beantworten oder auf Skype Videos und Bilder ihrer Söhne und Enkel anzusehen und zu kommentieren. Heute fühlte sie sich außerdem verpflichtet ihren Mann mit einer Erinnerung auf den Wecker zu fallen, denn dessen Schwester Helga hatte heute Geburtstag. Henni hörte schon die Antwort, ‚Henriette,‘ das sagte er immer, wenn er mich ärgern wollte, ‚das weiß ich doch! Du nervst.‘ Scheinbar gab er alle seine… und ihre Termine in den Laptop ein und der alarmierte immer rechtzeitig, – behauptete er. Na ja, sie, für sich persönlich, traute der Technik nur sehr begrenzt. Oft genug hatte sie es schon erlebt, dass durch irgendwelche Fehler schlagartig alle diese Daten verschwunden waren, ja und dann? Die Software wäre zwar immer besser geworden, sagt mein Mann, aber er gab auch zu, dass die oft nur kleinen Veränderungen durch neue Updates, die zwar die Programme zuverlässiger als früher machten, aber andererseits auch ihm, dem Ingeniör, immer häufiger Schwierigkeiten bereiteten, weil er nicht gleich kapierte, wie die Änderung zu handhaben sei, ohne einen Fehler zu machen. Genau, einen Fehler und – weg war das Adressbuch oder eben die Geburtstage. Also erinnerte sie ihn sozusagen prophylaktisch.
„Wann willst du denn deine Schwester anrufen?“
„Gut, dass du fragst, mein PC hat auch schon gepiept,“ er sah lächelnd zur Frau auf, „wollen wir gleich anrufen?“
„Wie spät ist es denn? Du weißt …“
„… gleich neun, das müsste doch gehen?“
„Ja, ja Helga ist sicher aufgestanden und Hans stört das Klingeln nicht.“
Helga, die drei Jahre ältere, selbstbewusste, couragierte Schwester, eine promovierte Zahnärztin im Ruhestand, lebte mit ihrem Mann Hans, einen Gymnasiallehrer für Mathe und Physik nach wie vor in der kleinen idyllischen Provinzstadt Osterburg. Ja, mit seiner Schwester hatte Herwig immer etwas Besonderes verbunden und er glaubte nicht nur, weil sie verwandt miteinander waren. Mit ihr konnte er sich sowohl sehr gut unterhalten als auch streiten, fruchtbringend streiten. Allerdings war das wohl vor allen Dingen Helgas Diplomatie zu danken. Die Schwester konnte sich viel besser beherrschen als ihr jüngerer Bruder. Weshalb der Bruder ihr schon ab und zu herzloses Verhalten vorgeworfen hatte, indem er ihr dann ‚herzlose Sandra‘ an den Kopf warf. Das ist der Name einer Figur, die aus den Geschichten herrührte, die ihre Mutter den beiden Kindern im Bett erzählt oder vorgelesen hatte.
„Gut,“ Herwig griff zum Telefon, „rutschen wir ein bisschen zusammen, dann kann ich den Hörer hier,“ er zeigte auf die Ecke seines Schreibtisches, „ablegen und laut stellen.“
Der Mann wählte die Nummer aus dem internen Telefonbuch, drückte zweimal auf den grünen Knopf, beide hörten die schnelle Reihenfolge der Laute, als die Zahlen eingelesen wurden und wenig später das Besetztzeichen, ein schnell aufeinanderfolgendes, „piep, piep, piep…“
„Scheiße besetzt.“ Er wartete ein paar Sekunden, wählte dann erneut und … jetzt, mit größeren Abständen, piep – piep, das Rufzeichen. Schneller als erwartet hörten sie eine fremde Stimme:
„Hier ist der private Telefonautomat Apps von Hans und Helga Meinecke. Bitte sagen sie nach dem nächsten Piep ihren Namen – Piep.“
In die Stille hinein und etwas vom Telefon abgewandt fragte Herwig, „sag mal, haben wir uns verwählt?“
„Aber der Name hat sich doch wie Hans und Helga Meinecke angehört?“ flüsterte die Frau.
„Das habe ich nicht verstanden, bitte wiederholen sie.“
„Mensch, Max Balladu, verdammt,“ knurrte der Mann laut in Richtung Telefon.
„Mensch Max Balladu verdammt,“ reagierte der Automat, „wenn die Angelegenheit
- beide betrifft, drücken sie die 1
- Nur für Hans wählen sie die 2
- Nur für Helga wählen sie die 3“
Herwig drückte hastig die 2. „Mist! Verdrückt!“
Der Automat spulte weiter sein Programm ab
- „Wollen sie Hans eine Nachricht hinterlassen drücken sie die 1
- Für eine Anfrage die 2
- Für ein Gespräch drücken sie die 3“
„Gottverflucht, wie kann ich mich denn korrigieren, ohne das Gespräch…“
„Mensch Max Balladu verdammt drücken sie eine Zahl zwischen 1 und 3“
quatschte der Automat dazwischen.
Herwig drückte zornig die 1.
„Sie haben 20 Sekunden Zeit, Piep.“
„Mensch ich wollte doch nur…“
„… du kannst doch zu Hans nicht einfach Mensch…“
„… na Helga hat doch – ich habe mich vertippt, entschuldige Pit.“
„Danke für die Nachricht Mensch Max Balladu verdammt.“
Noch bevor Herwig das Gespräch beenden konnte, piepte es wieder in der Leitung, der Automat hatte die Verbindung bereits unterbrochen.
„Was sagst du dazu Weib?“ Herwig starrte seine Frau an, aber die erwiderte nur verständnislos seinen Blick. „Das hätte ich meiner Schwester gar nicht zugetraut. – Aber – Interessant.“
„Gibt es denn solche Apparate inzwischen tatsächlich?“ Die Frau glaubte immer noch im falschen Film zu sein.
„Programmiertechnisch ist das überhaupt kein Problem. Der Name des Automaten heißt vermutlich nicht zufällig Apps, denn eine App besteht ja mehr oder weniger aus kleinen Programmen.“ Herwig starrte auf den Hörer, „aber ist das auch nützlich? – Egal, ich will wissen, was Apps noch drauf hat.“ Herwig drückte die Wahlwiederholung, schaltete durch nochmaliges Drücken wieder den Lautsprecher an, behielt aber das Mobilteil in der Hand.
Dieses Mal nannte er schnell seinen richtigen Namen, Herwig Flessel, drückte bei der ersten Abfrage die 3 für Helga und dann die Taste 2 für eine Anfrage.
„Frau Hedwig Flessel,“ sagte der Automat, „wenn sie eine Fremde sind
- drücken sie die 1
wenn du eine Verwandte bist
- drücke die 2
wenn du eine Freundin bist
- drücke die 3“
Herwig drückte die 1.
„Sie haben für ihre Anfrage an Frau Dr. Helga Meinecke 20 Sekunden Zeit. Sprechen sie nach dem Piepton. – Piep.“
„Hier ist nochmal der Mensch Max Balladu ohne verdammt. Ich rufe nur an, weil ich weiß, dass sie, Frau Doktor, mein Buch ‚Ein Mensch 08-15? gelesen haben. Da der Titel ein Fragezeichen enthält, würde ich gern wissen, wie sie persönlich diese Frage beantworten. Danke im Voraus.“
„Danke für die Anfrage an Frau Dr. Helga Meinecke.“ Piep, piep, piep.
„Jetzt mach‘s doch mal richtig, Mann.“
„Was heißt hier richtig,“ empörte sich der Mann, „ich habe alles richtig gemacht, aber der Automat…“
„Gib her, jetzt bin ich dran.“ Henni griff sich das Telefon, wählte die Nummer noch einmal komplett neu, der Ruf ging raus und nach drei Sekunden meldete sich wieder der Automat. Sofort drückte sie das Teil wieder ihrem Mann in die Hand. Scheinbar hatte sie gedacht, dass der vorher doch etwas falsch gemacht hatte, und dass sich jetzt das Geburtstagskind direkt melden würde. Aber auf keinen Fall wollte sie mit einem Automaten reden.
Herwig fackelte nicht lange, sprach seinen Vornamen ganz langsam und deutlich aus, dann drückte er zuerst die 3, dann nochmal die 3 für ein direktes Gespräch mit Helga. Die nächste Abfrage beantwortete er mit der 2, also verwandt, und wartete gespannt auf die Antwort.
„Hallo Wicki, ich verbinde.“
Herwig vernahm das Knacken, und nur eine Sekunde später hörten sie beide die Stimme seiner Schwester Helga. „Meinecke.“
„Hallo Schwesterchen! Hier sind Henni und Herwig…“
„…hallo!“
„… herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schwesterlein und …“
„…Gesundheit, Freude…“ ergänzte Henni
„Danke ihr beiden. Das ist…“
„Sag mal Schwesterchen, was hast du denn mit deinem Telefon gemacht?“
„Das fragst gerade du Wickie, Brüderlein? Du hast doch immer gesagt, dass mein Apparat zu alt ist, ihr mich schlecht versteht und jetzt habe ich einen neuen gekauft und das ist dir auch nicht recht?“
„Ja, das stimmt,“ meldete sich Henni, denn am häufigsten telefonierten die beiden miteinander, „wir haben dich manchmal nur sehr schlecht verstanden. Das ist heute auf alle Fälle viel besser…“
„… aber von einem solchen Apps,“ unterbrach Herwig, „habe ich ja noch nie was gehört. Wie bimmelt das Ding denn, wenn ich nur Hans oder, wie heute, nur dich sprechen will?“
„Da gibt es keinen Unterschied.“
„Wie bitte? Wozu dann die ganze Fragerei? Das hat ja ewig gedauert.“
„Ja, du sagst es. Anfangs hat zu den Ansagen des Automaten, wenn man ihn später abgehört hat, auch eine IQ-Angabe zum jeweiligen Anrufer …“
„…was Schwesterchen, das ist ja toll, dann…“
„Vorsicht Brüderchen, du hast ziemlich viel Zeit gebraucht, wie du ja selbst festgestellt hast und dann hätte da gut rauskommen können, dass …“, sie stockte unsicher, „naja, ich will dich auf keinen Falle Beleidigen, aber…“
„…ich doch nicht so schlau bin, wie ihr alle immer dachtet, sondern nur ein IQ von 100, also Durchschnitt, habe?“
„Genau das wollte ich vermeiden, weil es ja Quatsch ist mit nur wenigen Aussagen, wie Zeit, Ausdrucksweise und richtiger Grammatik eine Intelligenz zu best…“
„…ach, Schwesterlein, aber lustig wäre es schon gewesen. Ich bin zum Beispiel schon froh, dass wir überhaupt durchgekommen sind und nicht in Panik aufgegeben haben.“
„Ich habe mir das vom Verkäufer aufschwatzen lassen, aber…“
„…so viel Humor hätte ich dir gar nicht zugetraut, Schwesterlein, aber – sehr gut, das haut mich glatt um…“
„…muss ich jetzt auch immer,“ mischte sich Henni in das Gespräch ein, „zuerst mit dem Automaten sprechen,“ fragte Henni mit sorgenvoller Stimme.
„Ach was, Henni, wenn der Automat deine Stimme hört, stellt er dich sofort durch.“
„Gott sei Dank, denn sonst hätte ich mich gar nicht mehr getraut dich anzurufen.“
„Das würde ich sehr bedauern, Henni, die Gespräche mit dir sind immer sehr informativ, denn mich interessiert jeder einzelne in eurer großen Familie.“
„Das ist das Stichwort. Wie geht es Hans? Was machen die Italiener? Wie geht es der slowakisch-deutschen Familie?“
Während die Frauen mindestens noch eine halbe Stunde miteinander schwatzen würden, setzte Herwig sich wieder ab in den Keller, seine Frau würde ihm ohnehin jede Einzelheit des langen Telefongesprächs übermitteln, ob er das wollte oder nicht.