Tag-Archiv | Roman

Buch 10: ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Hallo liebe Lesefreunde!

 Das 10. Buch von Max Balladu ist ein Roman in zwei Bänden, die in je zwei Teile aufgegliedert sind. Der Titel lautet: 

‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Band 1

 

 

Band 2

Buchlesungen finden im Januar statt.

Beide Bände sind im Online-Buchhandel verfügbar.

Preise:

Band 1    19,99 €

Band 2   15,99 €

Der Spanner

4. Auszug  aus Balladus neuem, noch unveröffentlichten Buch ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Bennstedt ‚Zur alten Scheune‘, Dienstag, 2.10. 2018

Bei der Zusammenkunft des ZKV am 31. Oktober 2017, konnten die beiden Detektive aus Düsseldorf noch nicht viel neue Fakten aufweisen, die für einen Zusammenhang zwischen dem Russen Sergej Wlassow und Ninas Freund Horst Beier sprachen. Das einzige Ermittlungsergebnis besagte, dass Sergej noch am letzten Tag des Krieges, erschossen worden war. Die weitere Recherche bezüglich der deutschen Küchenhilfe, die bei der Flucht maßgeblich geholfen hatte, brachte etwas reichere Erkenntnisse. Die aus einer kleinen Bauernfamilie stammende Ilse Schäfer, war am 17.7.1925 in Kölme geboren worden. Im März 1944 wurde sie zur Zwangsarbeit im KZ Wansleben verpflichtet. Am 23.8.1945 brachte sie ihren und Sergejs Sohn Dimka (Sergejewitsch) zur Welt. Ab 1946 lebten sie und das Kind mit dem russisch-tschetschenischen Offizier Ramsan Kadyrow in Halle zusammen. Die Mutter starb bereits am 21. April 1953 an einer Blutvergiftung. Kadyrow adoptierte das Kind, es erhielt den Namen Dimka Sergejewitsch Kadyrow. Der Junge wuchs praktisch in der Kasernenstadt am Rande der Heide von Halle auf. Im Herbst 1963 wurde Dimka für drei Jahre zum Militärdienst in der Sowjetarmee nach Moskau eingezogen und besuchte danach für drei Jahre eine Offiziersschule.

Mehr hatten Ernst Wolf und Paula Peters vor einem Jahr nicht herausfinden können. „Das sieht dieses Mal etwas besser aus,“ begann Ernst Wolf mit dem Bericht über die neuen Erkenntnisse, nachdem sich die heute teilnehmenden Mitglieder des ZKV begrüßt hatten. Günther Hossa in seiner bekannten Art, ohne ein Wort von sich zu geben. Er sah nur auffordernd zu Lena. Die nickte mit dem Kopf in Richtung Detektiv-Duo. Mit nur zwei Worten, „neue Ergebnisse?“ wandte er sich an Wolf.

„Bevor wir mit unseren Berichten loslegen, möchte ich gern, dass der ältere Herr, der gerade den Gastraum betreten hat, mit an unserem Tisch Platz nimmt.“ Er winkte dem Mann zu, der an der Tür unschlüssig stehen geblieben war, „bitte setzen sie sich doch zu uns,“ und zeigte auf den freien Stuhl neben Paula.

Erstaunt musterten die ZKV-Mitglieder die zwar kleine, aber aufrechte, schlanke Gestalt des Mannes, sein rundes mit vielen Fältchen durchzogenes Gesicht, die senkrecht stehenden, kurz geschnitten, grauen Haare, die an früher üblichen Bürstenschnitt erinnerten, und verfolgten interessiert wie der Fremde ohne Gehhilfe sicheren Schrittes wortlos zum Tisch kam, nur nickend grüßte und sich setzte.

„Wir werden den euch noch unbekannten Gast etwas später vorstellen, wenn ihr gestattet.“ Ernst sah lächelnd von einem zu anderen, bemerkte dass Susanne etwas sagen wollte, schüttelte nur leicht den Kopf und sie schwieg. Der Fremde sah sich aufmerksam um, nickte nochmals allen verhalten zu, nur Paula schenkte er ein verschmitztes Lächeln.

Ernst Wolf sah auffordernd zu seiner Partnerin, „zuerst ist Paula dran. Sie kann den ersten Teil viel spannender erzählen als ich.“

„Weil sie nicht nur schnüffeln kann,“ konnte Balla sich nicht bremsen einzuwerfen, „sondern auch Fantasie und Humor hat. Woran es dir, schon wegen deines Vornamens, mangelt.“

„Halt die Klappe Balla!“ knurrte Hossa.

Die Anwesenden amüsierten sich, weil die Kabbelei zwischen den eingeschworenen Freunden Ernst Wolf und Emil Balla schon zur Tradition der Besprechungen gehörte.

Paula Peters nutzte diese Zeit, um nach dem richtigen Anfang zu suchen. „Deine Informationen Susanne, haben…“

„Die Informationen vom Freund meiner Tochter,“ warf die Cremer ein.

„… na klar, deinem Schwiegersohn …“ sie hob nur kurz ihren rechten Arm, um einen erneuten Einspruch zu verhindern, „Lewan Taktakischwili, haben uns den Durchbruch gebracht. Wir müssen mit unseren Gedanken erst einmal zurück bis zum November 1994, also kurz bevor der erste Tschetschenische Krieg begann.“

Halle-Neustadt, Freitag, 11. November 1994

„Warum musst du nach Tschetschenien?“ Angela streichelte die Wange des neben ihr im Bett liegenden Mannes, „von dort hört man nicht gerade beruhigende Nachrichten, Dimka. Sag mir die Wahrheit.“

Der mittelgroße Mitvierziger, Dimka Sergejewitsch Kadyrow, mit untersetzter Figur und die sechs Jahre jüngere Angela Beier, lebten seit 1970 zusammen. Obwohl sie nicht verheiratet waren, fühlten sie sich wie eine fast richtige Familie. Es fehlte nur noch ein Kind, das sich beide sehr wünschten, aber bisher war ihnen dieser Wunsch unerfüllt geblieben. Die Lehrerin für Russisch und Geschichte hatte den russischen Offizier mit deutschen Wurzeln, der nach dem erfolgreichen Abschluss der Offiziersschule wieder nach Deutschland geschickt worden war, am 1. Mai 1970 bei der traditionellen Demonstration in Halle-Neustadt kennengelernt.

„Es gibt Konflikte zwischen Russland und Tschetschenien,“ begann Dimka langsam, überlegte dann, was er sagen könnte, um Angela möglichst nicht zu ängstigen, „nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung der Tschetschenen durch Dudajew, schwelt in diesem Land die Unruhe. Seit nun auch noch der Putsch der prorussichen Gruppe fehlgeschlagen ist, sieht es jetzt so aus, als würde Jelzin Militär in dieses Land einmarschieren lassen. Viele Kommandeure und Offiziere haben sich scheinbar geweigert Befehle in dieser Richtung, also der eines Einmarsches in Tschetschenien, auszuführen…“

„Recht haben sie!“ warf Angela energisch ein.

„Ja … wahrscheinlich. Ich weiß im Moment noch nicht, was ich machen soll. Vielleicht kann ich ja vor Ort verhindern, dass es zu einem unnützen Blutvergießen kommt?“

Angela beugte sich kopfschüttelnd über den Mann, „du setzt dich einer zusätzlichen Gefahr aus, Dimka. Und wie soll das gehen, bei einem Krieg das Töten verhindern?“

Der inzwischen zum Oberst beförderte Kadyrow, war im August dieses Jahre 1994 mit den anderen russischen Besatzungstruppen von Deutschland nach Russland zurückgekehrt und in der Nähe von Moskau stationiert worden. Angela wollte erst mit ihm nach Russland gehen, aber dann beschlossen beide, dass sie doch in Deutschland bleiben sollte. Dimkas Dienstzeit betrug bereits 31 Jahre und er hatte fest vor, nach dem Einsatz in Tschetschenien, aus der Armee auszuscheiden.

„Man hat mich zum Kommandeur der selbständigen Luftsturmbrigade Kamyschin gemacht.“

„Was heißt das?“ fragte Angela verwundert, „macht das die Situation besser?“

„Ja. – Glaube ich zumindest.“ Dimka überlegte, bevor er weitersprach, „ich bin der Kommandeur, ich entscheide. – Du kennst mich Ela und du weißt, dass mein Stiefvater gebürtiger Tschetschene und wie ich Offizier der Sowjetarmee war. Er glaubte nicht nur an die kommunistische Idee einer klassenlosen Gesellschaft, er handelte auch bis zu seinem Tod danach.“ Erneut dachte Dimka ein paar Sekunden nach, „ich werde kein unnötiges Morden zulassen, Ela.“

„Dein Stiefvater ist tot?“ Angela sah den Mann erstaunt an.

„Er …“ Dimka zögerte nur einen kurzen Moment, „… ist … in einem Krieg gefallen.“

„Was? Wo und wann denn?“

„Er war Befehlshaber der Besatzungstruppen des südlichen Gebietes in Afghanistans mit Sitz in Kandahar. 1983 wurde er vom Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen Generalleutnant Igor Rodionow nach Kabul zu einer Lagebesprechung befohlen. Mein Vater flog mit der Patrouillenversion vom Typ TU-95, der TU-142, ohne zu wissen, dass die Russen nicht mehr die sichere Lufthoheit besaßen. Prompt wurde ihr Flugzeug mit einer hochmodernen Stinger-Rakete abgeschossen. Von der vierköpfigen Flugbesatzung sind drei sofort getötet worden, während der Vierte, mein Vater und zwei seiner Stabsoffiziere, mit Fallschirmen abspringen konnten, aber alle vier wurden noch in der Luft hängend von Scharfschützen getötet.“

„Das ist furchtbar, Dimka.“ Die Frau drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite, damit der Mann nicht sehen konnte, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Die Mächtigen dieser Welt, ob im Osten oder Westen, haben alle Dreck am Stecken. Du darfst nicht auch zum Opfer … oder Mörder werden, Dimka.“

„Wenn ich nicht gehe, dann befördern sie einen anderen und schicken den in den Krieg.“ Dimka winkte ärgerlich ab.

Doch die Frau ließ sich nicht beruhigen. „Jede Art von Krieg müsste in der heutigen Zeit verboten werden. Haben die Menschen denn nichts aus der Vergangenheit, den zwei großen Weltkriegen und den vielen, zwar vergleichsweise kleinen Kriegen, die aber mit furchtbaren Nachfolgeproblemen die Menschen quälen, gelernt? Muss das immer so weitergehen, Dimka?“

Beide schwiegen geraume Zeit.

„Was ist eigentlich mit deinem richtigen Vater, Dimka? Du hast nie von ihm erzählt. Warum? … oder … was ist mit ihm passiert?“ Erneut sah die Frau dem Mann eindringlich in die Augen. Der Blick sagte deutlich, dass sie sich nicht ohne eine Antwort zufriedengeben würde.

„Mein Stiefvater hat über diese Zeit nicht gern gesprochen und wenn, dann nur sehr spärlich. Ich weiß nur, dass mein leiblicher Vater, ein großgewachsener, bärenstarker Russe, Sergei Iwanowitsch Wlassow wohnhaft in Moskau, im April 1945 aus einem Nebenlager des KZ Buchenwald zusammen mit drei anderen Leidensgefährten fliehen konnte. Die drei, ich glaube es waren Dänen, haben es geschafft, aber er wurde am letzten Tag des Krieges erschossen. Kurz bevor er sich bei den Amerikanern in Sicherheit bringen konnte…“ Er zögerte einen Augenblick und fügte dann noch hinzu, „…wahrscheinlich erschossen, denn seine Leiche wurde nie gefunden.“

„Und deine Mutter? … wer war dann deine Mutter? … eine Deutsche? … oder? … und warum ist sie tot?“

„Sie zog sich im Juni 1953 eine Blutvergiftung zu und starb am 16. Juni 1953 auf dem Weg in die Klinik. Ja, sie war eine Deutsche, arbeitete in dem KZ als zwangsverpflichtete Küchenhilfe und nur mit ihrer Hilfe, ihrer Ortskenntnis, konnte die Flucht der vier Häftlinge auf dem Todesmarsch aus dem KZ Richtung Saale, gelingen.“

„Es ist nicht zu fassen, deine Mutter hat die Flucht organisiert und ausgerechnet ihr Geliebter, dein Vater, wurde erschossen? … entschuldige Dimka, ich finde das nur irgendwie … na ja, hatte er vielleicht einen Rivalen?“

Dimka sah seine Frau an, ‚wie kam sie nur darauf?‘ Er hatte darüber nie nachgedacht. Im April war doch noch Krieg. Außerdem war sein Vater auf der Flucht vor der SS. Aber eine personifizierte Tötung mit dem Motiv Eifersucht? Das konnte der Mann nicht nachvollziehen. „Das ist doch Unsinn, Ela. Du hast zu viel Fantasie.“

„War deine Mutter schön?“

Dimka schüttelte den Kopf. „Sie war eine Küchenhilfe.“

„Na und?“ Die Beier besann sich, „aber das ist jetzt wirklich unwichtig, Dimka. Wir haben nur noch diese Nacht.“

Sie küsste dem Mann auf den Mund, zog ihn langsam zu sich, bis er auf ihr lag, nein, über ihr schwebte, denn Dimka war stark und stützte sich so ab, dass sie sein Gewicht kaum spürte. Diese überaus zärtliche Berührung ihrer Haut mit seiner, ließ sie lustvoll erzittern und sie stöhnte auf vor Wollust, als der Mann in sie eindrang. So intensiv, so ganz und gar in ihr drin, mit ihr verschmolzen, hatte sie ihren Dimka noch nie vorher empfunden.

Am nächsten Morgen verließ Oberst Kadyrow nachdenklich, aber sehr ruhig und ausgeglichen, den fünfstöckigen Wohnblock in Halle-Neustadt, vor dem ein Taxi wartete, dass ihn zum Flughafen nach Berlin brachte, von wo aus er mit der Aeroflot nach Moskau flog. Dort brauchte er nur einen Tag, um seine Ausrüstung zu packen, den Einsatzbefehl aus dem Verteidigungsministerium abzuholen und sich von seinem Armeefreund, Iwan Pawlow zu verabschieden, mit dem er mehrere Jahre in Deutschland stationiert gewesen war, 1994 den Rückzug aus Deutschland mitgemacht hatte und der mit ihm die letzten Monate in Moskau verbracht hatte. Am nächsten Tag, Montag, dem 14. November, flog Oberst Kadyrow mit der Aeroflot nach Wolgograd, fuhr zweihundert Kilometer mit dem Auto am Westufer der Wolga entlang bis zu den Kasernen in Kamyschin, in denen seine Truppe, deren Kommandeur er ab heute war, schon seit längerer Zeit stationiert war.

Der gerettete Retter

2. Auszug  aus Balladus neuem Buch ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Seeleben, Mittwoch 14. Februar 2007

Der fünfjährige Felix stopfte kleine Steine in seine Hosentaschen und wanderte langsam weiter in Richtung See. Auf dem letzten Stück bis zu der von ihm angesteuerten Uferstelle, fand er zwar keine mehr, aber seine Taschen waren ohnehin voll genug.

Der kleine, künstlich infolge des Kalisalzbergbaus in den Jahren vor 1925 entstandene, inzwischen durch die fleißig waschsenden natürlichen Gewächse idyllisch aussehende, fast rechteckige, circa dreißig Fußballfelder große See, war mit einer nur dünnen Eisfläche bedeckt, die so spiegelte, dass die Versuchung groß war, vor allen Dingen für die jüngeren Fußgänger, sich aufs Eis zu wagen. Felix konnte trotz seiner viereinhalb Jahre schon schwimmen, das hatte ihm im letzten Sommer ein fast sechs Jahre älterer Junge aus dem ganz in der Nähe befindlichen Heim, Horst Wichmann, den alle nur Hulk riefen, beigebracht. Doch der Junge kannte aber auch die Tücken einer zugefrorenen Wasseroberfläche. Er wusste, wenn der Waghalsige unter das Eis geraten würde, schwimmen nur wenig half, wenn man die Öffnung im Eis nicht wiederfinden konnte. Schlimmer noch, wenn derjenige dazu noch die Panik geriet. Felix war schon zweimal eingebrochen, hatte sich aber fast nur nasse Füße geholt. Nur einmal stand er bis zum Hintern im Wasser.

Heute wollte er nur ein paar der kleinen Steine über das Eis gleiten lassen, vielleicht schaffte er es ja bis auf die andere Seite, immerhin waren das etwa dreihundertfünfzig Meter.

Als Felix den zweiten Stein warf und verfolgte, glaubte er am Schilfrand rechts, irgendetwas gesehen zu haben. Er ging näher an die Eisfläche heran und jetzt konnte er es sehen. „Ein Hund!“ rief er laut, obwohl das gar keinen Sinn hatte, denn er war hier und da in einem kleinen Eisloch der Hund, allein. Felix dachte noch zwei Sekunden nach, dann betrat er langsam und sehr vorsichtig das Eis. Die dünne Schicht bog sich durch, aber schien doch so elastisch zu sein, dass sie ihn tatsächlich tragen könnte. Das ließ den Jungen Mut schöpfen und er glitt weiter vorsichtig über die glatte Fläche. Der Hund bemerkte ihn und jaulte wieder etwas lauter, fast hatte es sich bis dahin schon angehört, als ob ihn die Kräfte verließen. Zwei Meter vor dem Eisloch legte Felix sich bäuchlings auf das Eis und glitt bis an den Rand der Öffnung. Er griff dem Hund ins Fell, erwischte dabei auch die Haut, so dass das Tier noch etwas lauter heulte, aber darauf konnte Felix keine Rücksicht nehmen. Zum Glück war der Beagle nicht besonders schwer, so dass es gelang, ihn aufs Eis zu ziehen. Felix schob den Hund in Richtung Ufer, doch der versuchte sich dagegen zu wehren.

„Nun lauf schon. – Was ist nur mit dir? – Wo willst du hin?“

Felix sah wieder auf das Loch, bemerkte eine dunklere Stelle unter dem Eis und erschrak. Unter der durchsichtigen Schicht schien ein Mensch festzuhängen. Felix rutschte wieder näher, brach Stück für Stück das Eis weiter auf, bis es ihm gelang, nach dem Menschen zu greifen. Es war ein Kind, vielleicht so alt, wie er, ein Mädchen, das leblos, nun vom Eis befreit, auf dem Wasser schwamm, was wohl die Luftblase unter ihrem Anorak bewirkte. Erneut bemühte sich Felix den Körper auf die Eisfläche zu schieben, aber das Eis gab nach, bog sich immer weiter durch, wurde rissiger und plötzlich, ehe er etwas dagegen hätte tun könne, fand er sich mit dem leblosen Mädchen im eiskalten Wasser wieder.

Dem Hund schien es wieder besser zu gehen, denn er bellte laut, mit respektvollem Abstand zu dem Loch.

„Lauf Hund!“ rief Felix verzweifelt, „hol Hilfe! Hilfe!“ rief Felix so laut er konnte. Doch der Hund lief nur aufgeregt hin und her und bellte ununterbrochen.

Felix bemühte sich mitsamt dem Körper des Mädchens ans Ufer zu gelangen, aber das ging sehr schwer, denn er musste sich ja durchs Eis kämpfen. Schon bald merkte er, dass seine Kräfte nachließen, aber er kämpfte verbissen und ließ das Mädchen nicht los. Plötzlich krachte dem Jungen ein Stock auf den Kopf. Der Schreck war nur kurz, denn Felix sah das daran befestigte Seil, wickelte es sich schnell einmal um seinen Körper, dann auch noch um den des Mädchens, klemmte das Ende des Seils mit dem Stock zwischen seine Beine, fühlte den Ruck, als jemand am Strick zu ziehen begann und langsam kamen die beiden Menschlein dem Ufer immer näher, bis kräftige Arme erst das Mädchen, dann Felix an Land hievten.

Der Retter war Hulk. Jetzt spürte Felix, dass sein großer Freund zu Recht diesen Spitznamen besaß, denn er war nicht nur groß und stark, sondern fackelte auch nicht lange, wenn es galt Menschen in Not, und erst recht schwachen Menschen in Not zu helfen.

„Hol Hilfe Felix,“ befahl der Elfjährige und begann sofort mit der Wiederbelebung, wie er das vom Fernsehen her kannte.

Der resolute Befehlston half dem erschöpften Felix widererwarten auf die Beine. Er ging anfangs langsam und wackelig, dann immer sicherer auftretend und zum Schluss konnte er sogar rennen. Nach Luft japsend kam er vor dem Eingang zum Haus ‚Mischwaldland‘ an.

„Hilfe!“ rief Felix schon vor dem Haus.

„Hilfe!“ er stolperte die Treppen hinauf, griff zur Tür, aber er fasste ins Leere, denn eine knapp Siebzehnjährige hatte bereits die Tür aufgerissen, der Junge fiel ihr in die Arme.

„Hilfe – Horst – kleines Mädchen – unter dem Eis,“ stammelte Felix, seine Beine versagten ihren Dienst, aber die junge Frau war kräftig, nahm den Jungen auf die Arme und trug ihn in das Haus hinein.

Auf dem Flur kam ihnen ein noch junger, mittelgroßer Mann entgegen, „Timo ruf die Rettung. Am See ist Hulk und wohl ein ertrunkenes Mädchen.“

„Gib mir den Jungen, Sara und rufe du an. Wir kommen mit.“ Timo übernahm den zitternden Jungen, während Sara die Tür zum nahegelegenen Büro aufriss, die anderen zwei vorbeiließ, schnell hinterherging und zum Telefon griff.

Während Sara telefonierte, zog Timo dem Jungen die feuchten Sachen aus und begann ihn mit einem Handtuch abzureiben.

„Mach du hier jetzt weiter Sara,“ Timo drückte ihr das Handtuch in die Hand, nachdem sie den Hilferuf abgesetzt hatte, „ich laufe zum See und sehe, ob ich Hulk helfen kann.“

Und schon rannte er aus dem Haus.

Es dauerte eine Viertelstunde bis die Rettung am Unfallort eintraf, wo sich Timo und Hulk immer noch um das Mädchen bemühten.

Der Notarzt eilte zu dem am Boden liegenden Kind und die Sanitäter gingen mit einer Krankentrage hinterher.

Während der Arzt das Kind untersuchte standen Timo und Hulk mit traurigen Gesichtern daneben und warfen ab und zu unruhige Blicke zu dem kleinen, sehr blassen Mädchen.

Schon nach ein paar Minuten stand der Arzt wieder auf. „Bringt die Kleine in den Krankenwagen,“ wies er die Sanitäter an, wandte sich dann Timo und Hulk zu, „wie lange war sie unter Wasser?“

„Keine Ahnung,“ antwortete Hulk, „Felix hat sie unter dem Eis hervorgeholt. Ich habe die beiden ans Ufer gezogen und aus dem Wasser gehoben.“

„Es sieht nicht gut aus,“ sagte der Arzt mehr an den erwachsenen Mann gerichtet, wandte dann aber sein Gesicht auch Hulk zu, „aber wir werden uns im Krankenwagen weiter um die Kleine bemühen,“ er sah auf seine Uhr, „das kann dauern,“ drehte sich um und stieg ebenfalls in den Krankenwagen.

Es dauerte eine ganze Stunde, bis die Tür sich wieder öffnete und der Arzt heraustrat.

Neben Timo und Hulk standen jetzt noch mehr Kinder aus dem Heim und ein paar Anwohner aus der nahegelegenen Neubausiedlung. Alle sahen dem Arzt erwartungsvoll entgegen.

„Es tut mit leid,“ sagte der Mann mit müder Stimme, „aber das Mädchen war nicht mehr zu retten.“ Er wollte gleich wieder ins Auto steigen, drehte sich dann aber doch noch einmal um, „wir bringen sie noch in die Uniklinik, aber…“ er zögerte einen kurzen Moment, „…es gibt – keine Hoffnung mehr.“ Er drehte sich um, stieg in den Krankenwagen und das Fahrzeug fuhr mit dem Mädchen davon.

Stumm sahen die Menschen hinterher.

Plötzlich fasste sich Hulk an den Kopf, „Felix! Ich muss zu Felix,“ und er rannte sofort los.

Instinktiv rannte er ins Heim, obwohl er wusste, dass Felix nicht zum Heim gehörte, ging direkt zum zentralen Büro und stürzte ins Zimmer.

Felix lag auf der Liege, durch mehrere Decken gewärmt. Sara saß daneben auf einem Stuhl und hielt eine dampfende Tasse in der Hand. Hulk musste näher treten, um in das Gesicht seines Kumpels sehen zu können. „Wie geht es, Felix?“

Die Augen des Jungen richteten sich fragend auf Hulk, doch der schwieg.

„Er ist unterkühlt,“ antwortete Sara und sah von Felix zu Hulk, „was ist am See passiert?“

Der vom Laufen noch schwer atmende, aufgewühlte Junge stieß kaum verständlich hervor, „tot!“ und trotzdem verstanden die beiden sofort.

Felix begann lautlos zu weinen. Sara ergriff seine Hand, um ihn zu trösten, obwohl sie selbst auch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, drei etwa dreizehn- oder vierzehnjährige Jungen polterten ins Zimmer, sahen den weinenden Felix auf der Liege und die Händchen haltende Sara. „Was ist denn hier los!“ brüllte der Anführer der drei, „pfui Teufel, sind wir etwa bei den schwulen Schwestern …“

Weiter kam er nicht, weil ihn Hulk gepackt hatte. Der zwei Jahre jüngere, verpasste dem Anführer einen Hieb ins Gesicht, dass der rückwärts taumelte, gegen seine Kumpane stieß und alle drei wurden von Hulk energisch auf den Flur zurückgedrängt.

Sara war ebenfalls aufgesprungen, eilte zur Tür, schob Hulk, der den anderen inzwischen losgelassen hatte, ins Zimmer zurück, während sie bei den drei auf dem Flur blieb. Nachdem sie den Jungs erklärt hatte, was passiert war, zogen die sich schweigend in das Gebäude zurück.

Als Sara nur wenig später das Büro erneut betrat, blieb sie kurz hinter der Tür staunend stehen. Felix war aufgestanden und redete beruhigend auf seinen großen Freund ein, der mit gesenktem Kopf vor dem viel Kleineren stand.

„… nicht umsonst,“ hörte Sara die Worte des erfolglosen Retters, „ich werde trotzdem immer wieder dasselbe tun, Horst Wichmann, ich werde helfen, wenn jemand in Not ist. Helfen – einmal wird es auch gelingen.“

‚Ja das stimmt,‘ dachte der große Freund und nickte zustimmend.

Kaum jemand im Heim kannte seinen richtigen Namen, aber alle wussten, wer Hulk war.

Der elternlose Horst Wichmann war am 1. Mai 2003 ins Haus ‚Mischwaldland‘ gekommen. Sein Geburtsdatum war der 9. Februar 1996, obwohl es nicht hundertprozentig sicher schien.

Am 5. Mai 2003 erhielt das Heim, quasi als materielle Spende, alte Möbel, zu denen auch ein ziemlich großer Schrank gehörte. Die Transportleute wollten Zeit sparen, sie verzichteten darauf den Schrank in seine Einzelteile zu zerlegen und versuchten das Ungetüm als Ganzes, „der ist doch leer“, sagte der Vorarbeiter, zu transportieren. Das gelang ihnen auch bis zur Treppe, die in den Flur des Hauses führte. Dort kamen sie ins straucheln und plötzlich kippte der Schrank.

Der Vorarbeiter brüllte, „Vorsicht! Alles weg!“

Aber genau in diesem Augenblick kamen zwei vierjährige, ein Junge und ein Mädchen, aus dem Haus, der Schrank senkte sich über sie. Die Kinder schrien auf, duckten sich, warteten auf den Schlag, aber der Schrank hielt mitten im Fallen inne, wie durch Geisterhand gehalten. Der Geist war Horst, der hatten den Schrank auf die Kinder fallen sehen, war schnell hinzugetreten, streckte seine Arme hoch und das Ungetüm wurde nicht nur abgebremst, er konnte ihn sogar solange halten, bis es den Kindern gelang unversehrt zu entkommen. Langsam senkte sich der Schrank weiter und von Horst war nichts mehr zu sehen. Doch plötzlich trat er hinter dem Schrank, dicht neben der Treppe, hervor und die wie gebannt wartenden Kinder und Erwachsenen schrien befreit auf, obwohl sie nicht begriffen, was da eben passiert war. Nur an dem hochroten Gesicht und seinem kräftigen, hörbaren Atmen, bei dem sich der Brustkorb ungeheuer spannte und wölbte, begriff einer nach dem anderen, dass Horst mit diesem Wunder zu tun haben musste.

„Hulk!“ stieß einer der älteren Jungs hervor und sie umkreisten staunend den Jungen.

Ab diesem Zeitpunkt hatte Horst seinen Spitznamen weg, aber das störte ihn gar nicht, denn der wurde von allen mit Achtung ausgesprochen.

Von da ab fühlte sich Horst Wichmann in seiner neuen ‚Familie‘ angekommen.

Felix Normu wurde einer seiner ersten Freunde, obwohl der fast sechs Jahre jünger war und gar nicht im Heim lebte. Dass Felix keinen Vater hatte, war der erste Grund für Hulk, sich dem Jungen verbunden zu fühlen und dann war da noch dessen optimistischer, ruhiger Charakter, der ihn zu überlegtem Handeln anhielt. Das gefiel Hulk, während manche der anderen Jungen dachten, der Normu sei eben eine Trantüte und langsam, wie eine lahme Ente. Sie erkannten nicht, dass Felix immer erst überlegte, bevor er handelte.

Am Nachmittag dieses düsteren Tages begleitete Horst seinen kleinen Freund nach Hause, der inzwischen wieder richtig warm und mit trockenen Sachen aus dem Heim ausgerüstet worden war.

Felix Mutter Claudia nahm die zwei traurigen Gestalten schweigend mit in die Wohnung, bat Horst auch noch zu bleiben und bereitere beiden einen warmen Tee mit viel Zitrone, den sie in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer servierte. Ohne Worte stellte sie einen Zuckernapf mit kleinem Löffel neben die Teekanne. Sie füllte beiden, dann auch sich selbst, ein großes Glas voll und forderte die Jungs durch eine Geste zum Trinken auf.

Felix Mutter Claudia, geborene Süß, war zur Wende 1989 achtzehn Jahre alt. 1990 beendete sie ihre Lehre als Verkäuferin, wurde aber vorerst Sekretärin im damaligen Kaliwerk in Teutschenthal, das der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Kali und Salze in Halle angeschlossen war.

Nach einigen Minuten oder vielleicht waren es auch nur Sekunden, keiner von den drei Personen hätte sagen können wieviel es genau waren, durchbrach Frau Normu die Stille. „Ich habe von Sara, also Frau Franke, gehört, was ihr beide gerade erlebt habt.“ Die Mutter verstummte wieder, dachte nach, sah die beiden an und fuhr fort, „deinen Namen Horst Wichmann…“, und etwas leiser fügte sie noch hinzu, „…Hulk, kannte ich ja schon von Felix, aber seit heute…“ wieder brach sie ab, starrte kurz an die Decke des Raumes, senkte langsam den Kopf wieder und sprach weiter, „…weiß ich, dass ich mit euch über die Wahrheit sprechen kann, sprechen muss. Deshalb,“ sie sah wieder zu ihren zwei Zuhörern und sah gespannte Aufmerksamkeit in deren Augen, „will ich dir Felix, meinem Sohn, zusammen mit deinem Freund von der Wahrheit über meine Vergangenheit berichten.“

Die Frau atmete, den Blick zum Fenster gerichtet, mehrere Male tief ein und wieder aus.

„Am 1. Juni 1990 wurde mein Betrieb unter der Firmenbezeichnung KALIMAG GmbH eine eigenständige Kapitalgesellschaft. Alleiniger Gesellschafter war die Treuhandanstalt Berlin. Allerdings übernahm bereits am 1. Juni 1992 die Grube Teutschenthal Sicherungsgesellschaft mbH GTS das Werk samt den angrenzenden Grubenfeldern Salzmünde und Angersdorf. Bereits in den ersten Monaten lernte ich dort meinen fünf Jahre älteren Mann Peter Normu kennen, der bereits vier Jahre in der Grube als Bergarbeiter beschäftigt war. Der mittelgroße, schlanke, temperamentvolle und sportliche Normu war überdurchschnittlich intelligent, aber von Schulunterricht hielt er nicht viel, deshalb trachte er beizeiten danach, Geld zu verdienen. Er absolvierte die erste beste Lehre, die ihm angeboten wurde und das war die Ausbildung zum Chemiefacharbeiter in Luna. Danach fing er sofort als Bergarbeiter im Kaliwerk in Teutschenthal an. Ich wusste damals nicht, dass seine Arbeit im Schacht noch eine tiefere Bedeutung hatte. Davon erzählte er mir erst viel später. 1996 heirateten wir, nicht nur, weil ein Kind unterwegs war, denn ich ergänzte mich hervorragend mit diesem Mann, jeder achtete den anderen, wir ließen uns gegenseitig genug persönlichen Spielraum und auch die sexuelle Liebe stimmte.“ Die Mutter sah mit fragendem Blick zu ihrem Sohn, dann weiter zu Horst und wusste, dass sie noch ein paar erklärende Worte hinzufügen musste.

„Eine Frau kann nur dann ein Kind zur Welt bringen, wenn sie die Spermien, also die Samen eines Mannes, die nur er in der Lage ist zu produzieren, in sich aufnimmt. Dazu hat der Mann ein Glied und die Frau eine Scheide zwischen den Beinen und wenn die beiden sich lieb haben, dann vereinigen sie sich und der Samen fließt vom Mann in die Frau. Dieser Vorgang kann den Menschen auch große Freude bereiten, wenn sich Frau und Mann richtig gern haben, und ja, das funktioniert auch nur so zum Spaß, zur Freude dieser zwei Menschen, ohne dass immer ein Kind entstehen muss. Versteht ihr das?“

Sie sah beide nicken, war sich aber nicht ganz sicher, ob die Jungs das alles verstanden hatten. Dennoch fuhr sie fort, „Anfang 1996 wurde ich schwanger, das heißt, der Samen deines Vaters Felix, fing an in mir zu einem kleinen Wesen heranzuwachsen. Wir freuten uns auf unser Kind und waren also rundherum glücklich. In diesen wunderbaren Monaten verriet mir Peter sein Geheimnis, über das ich euch zu einem späteren Zeitpunkt noch berichten werde. –

Dann kam der 11. September 1996.

Erdgasausfall

 1. Auszug aus Balladus neuem Roman ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

V-Fabrik, Mittwoch, 23. Januar 2017

„Haben die Yankees doch tatsächlich diese Pappfigur Trump zum Präsidenten gewählt“, schnaufte Hossa, „ich fasse es immer noch nicht!“ Er warf seinen Helm polternd auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Während die anderen Operatoren gleichgültig blieben, erwiderte Balla in der für ihn typischen Art, „ne janz schön teure Pappfigur, millionenschwer“, Balla präsentierte soldatisch sein Plasterohr, „vielleicht liegt aber gerade darin eine – versteckte – Gefahr?“

„Du denkst an Nordkorea, Emil?“ fragte die Paulus.

„Vielleicht sogar schon bald,“ meldete sich Jonny Adler zu Wort, „hört mal, was ich gerade im Internet gefunden habe: ‚Die USA verlagerten vier ihrer insgesamt 19 Flugzeugträger ins Japanische Meer. 600 Marines wurden in Goseong in der Provinz Gangwon im Nordosten von Südkorea stationiert. Für die nächste Woche waren nördlich von Seoul Manöver der südkoreanischen Streitkräfte mit U. S. Army und U.S. Navy geplant. Die nordkoreanische Volksarmee konzentrierte einen Teil ihrer Landstreitkräfte südlich der Städte Kosong, Pyonggang, Chorwon, Kaesong und Yonan. Obwohl China angekündigt hatte sich aus dem Konflikt herauszuhalten, verlagerten auch sie zumindest einen Teil der gruppenunabhängigen Luftlandetruppen nach Yanbian in den grenznahen Bereich zu Nordkorea und Russland.‘ Ist das nicht der blanke Wahnsinn?“

„Ein Atomkrieg, Leute,“ Emil stöhnte theatralisch, „dann war es wohl nicht zu früh, dass ich mein Testament aufgesetzt habe.“

„Du bist ein Arsch Balla,“ schnaufte Günther Hossa, „was hast du alter Sack denn zu vererben?“

„Das Schlimme ist doch immer“, unterbrach die Paulus ärgerlich das Geplänkel zwischen den zwei Freunden, „diese Großkopferten Milliardäre befehlen den Krieg und lassen dann die anderen, die Kleinen die Dreckarbeit machen!“

„Und vor allen Dingen dürfen sie, die Kleinen, also wir, sterben,“ ergänzte Balla, „für die Reichen und künstlich Schönen, wie unser Doc – Marx hab ihn selig – immer gesagt hat, sie lassen…“

„Äh Leute!“, meldete sich lautstark die kleine Streller, „am Baueingang ist gerade das Signal Erdgasdruck ‚Tief‘…“

„Ich nehme die flüssigen Rückstände hoch“, sagte Adler sofort, weil er blitzschnell festgestellt hatte, das kein Fehlalarm vorlag, sondern der Druck tatsächlich abfiel. „Passt auf die Spaltung auf!“, fügte er noch schnell hinzu und konzentrierte sich dann ganz auf die Rückstandsverbrennung.

„Susanne du übernimmst Spaltung 1“, sagte die Paulus ruhig und bestimmt, „dann kann Tanja sich auf die Zweite konzentrieren. Ich informiere die Ingenieure.“

Die amtierende Schichtleiterin Eva Paulus rollte mit ihrem Arbeitssessel zum Telefon, doch bevor sie das Mobilteil aus der Basisstation herausnehmen konnte, klingelte der Apparat.

„Jetzt kommt bestimmt die Erklärung, Eva“, sagte Adler, während die Frau das Gespräch annahm.

Die Paulus lauschte, ohne etwas zu sagen, legte den Hörer wieder zurück und stand auf. „Es gibt einen Schaden an der Erdgasleitung zwischen Teutschenthal und unserem OPA-Werk. Wir stellen beide Spaltöfen ab. Du Jonny versuchst so lange, wie möglich, die Verbrennung in Gang zu halten.“

„Kein Problem“, sagte Adler, „ich helfe Tanja die V-Destille 2 in Gang zu halten.“

„Okay Jonny, mach das.“ Sie drehte sich um, „Emil, Günther …“

„Sind schon unterwegs“, kam Balla der Frau zuvor.

Hossa zeigte auf seinen Freund. „Du Spaltung1?“

„Aye, aye, Sir!“

Die beiden Männer verließen schnell den Kontrollraum.

Noch bevor sich die Tür wieder schloss, betraten Harry Kupfer und Michael Stolz die Messwarte und gingen mit fragendem Blick auf die Paulus zu.

„Ihr habt wirklich den siebten Sinn“, sagte die Frau lächelnd, „Erdgasversorgung ist ausgefallen. Wir stellen gerade die Anlage ab!“

„Quatsch siebter Sinn,“ brummte Klaeske und ging dichter an die Bildschirme heran.

„Die neue Technik, Eva,“ flüsterte Stolz erklärend der Paulus ins Ohr, „ich habe das auf meinem Laptop mitbekommen.“

Ohne weitere Worte ging Stolz weiter zu den Prozessleitstationen von Tanja, während Kupfer bereits Jonny über die Schulter schaute, um zu sehen, ob die Verbrennung noch lief. Stolz sah Tanja zu, wie sie gemeinsam mit Jonny, der nur noch ab und zu einen Blick zur Verbrennung warf, die V-Destillation 2, die nun in sich betrieben werden musste, wieder ins Gleichgewicht brachte.

„Ich wundere mich nicht, dass Stumpfberg in Rente gegangen ist, Harry“, sagte Stolz, „das läuft hier ja alles wie geschmiert.“

Der 35-jährige Michael Stolz war ein stattlicher Mann, groß, breitschultrig, mit kräftiger, athletischer Figur, lockeren, halblang geschnittenen, dunkel-braunen, leicht rötlichen Haaren. Das Barthaar wäre bei ihm rot geworden, aber von Barttragen hielt er ohnehin nichts. Stolz war in Mainz geboren worden, hatte dort auch die Schule bis zum Abitur besucht. Seine Wehrpflicht konnte er mit einer Längerverpflichtung bei der Marine absolvieren. Von 2007 an studierte er Verfahrenstechnik in München und ging nach erfolgreichem Abschluss zur Firma Boechst nach Knappsack in die dortige B-Anlage. Am 1.9.2014 wechselte er zu OPA Industrial nach Halle und wurde in der V-Fabrik Fachingenieur für den V-Teil der Anlage.

„Geschmiert“, murmelte Kupfer mürrisch und zeigte mit der rechten Hand in Richtung Ausgang, der zur Anlage führte, „geschmiert wurde da draußen bestimmt schon lange nichts mehr.“

„Apropos geschmiert“, Stolz lachte kurz auf, „habt ihr eigentlich schon Amado informiert?“

„Bin schon dabei“, antwortete die Paulus kopfschüttelnd, weil Kupfer wieder meckern musste, verkniff sich aber eine bissige Antwort, denn sie wartete bereits darauf, dass der Chef sich meldete. Außerdem hatte sie Stolz zynische Bemerkung, die heutzutage leider immer mehr zur Realität gehörte, wieder besänftigt.

Da Amado auch nichts weiter zu dem Erdgasausfall sagte oder fragte, schob sie ihren Stuhl neben den der Cremer, die sich mit Spaltung 1 und der V-Destillation 1 herumschlug und setzte sich. „Soll ich dir die HCl-Kolonne abnehmen?“

„Ja, danke.“

Die Frauen arbeiteten still nebeneinander, bis die Anlage auf die neuen Bedingungen eingestellt war.

Susanne Cremer war eine hübsche, gut proportionierte vollschlanke Frau, der es inzwischen keine Sorge mehr machte, dass man sie für zu dick halten könnte. Die 56 Jahre alte, immer noch sehr attraktive Frau, war erstaunlicher Weise nicht verheiratet, hatte aber eine inzwischen erwachsene Tochter. Ihr ruhiger und ausgeglichener Charakter machte sie noch sympathischer. Sie redete nur, wenn sie auch etwas zu sagen hatte. Der ehemalige Anlagenleiter Dr. Prost hatte sich immer gern mit ihr unterhalten. Sie konnte auch zuhören und so wurden es mit ihr auch tatsächlich Gespräche mit Rede und Gegenrede. Als sich nach der politischen Wende 1989 die Veränderungen in der Wirtschaft abzeichneten, hatte Prost ihr, auf ihre Frage hin, geraten, vom Labor auf die Anlage umzusatteln, also Operator zu werden. Das hatte sie mit Bravour getan und nicht bereut.

Die Paulus griff wieder zum Telefon, „ich will mich mal erkundigen, wie lange die ganze Sache dauert. Hoffentlich müssen wir nicht die gesamte Anlage abstellen.“ Während sie sprach wählte sie die entsprechende Nummer, hielt den Hörer ans Ohr und lauschte.

„Teutschenthal, gutes Timing, Eva. Gerade habe ich die Information bekommen. Das Leck haben sie gefunden. Wir stellen um auf die zweite Versorgungsleitung. Das wird etwa eine Stunde dauern. Okay für euch?“

„Wir wollen es hoffen, weil wir für die Rückstandsverbrennung immer Erdgas benötigen, denn ohne diesen Anlagenteil steht die gesamte V-Fabrik.“

„Das heißt also, dass ihr abgestellt habt?“

„Nein, noch nicht, vorerst nur die Spaltöfen. Wir versuchen mit der von Hand gesteuerten Verbrennung flüssiger Rückstände, die Anlage in Gang zu halten. Wenn uns das gelingt, bleiben die DC- und Oxi-Reaktoren weiter in Betrieb, bis der Feedtank voll ist.“

„Reicht dafür die Zeit?“

„Ja, das klappt. Ich habe gerade mal überschlagen.“

„Wunderbar. Ich melde mich, wenn wir fertig sind.“

„Warte, noch eine Frage, kommt dann bei der Inbetriebnahme der anderen Leitung zuerst nur Stickstoff?“

„Das dürfte kaum spürbar für euch sein, denn es wird alles gründlich mit Erdgas gespült.“

„Okay, hoffen wir das Beste. Und Tschüss.“

Die Paulus legte den Hörer wieder zurück aufs Telefon.

„In einer Stunde haben wir wieder Erdgas,“ sagte sie laut, damit alle Bescheid wussten und setze sich wieder neben Susanne.

Die Schichtleiterin Eva Paulus war nicht nur eine kluge Frau, die durch ihre ruhige und bestimmte, unaufdringlich wirkende, aber unmissverständliche Art auffiel, sondern auch mit ihren 62 Jahren immer noch eine attraktive Erscheinung. Ihre Intelligenz und Schlagfertigkeit sorgte für ein gutes Verhältnis sowohl zu Frauen wie zu den Männern.

Nach ein paar Minuten sagte die Paulus, „ich habe dich neulich mit dem Leiter unserer Nachbaranlage auf der Straße stehen sehen. Das soll doch ein Schotte sein. Kennst du den näher?“

„Kannst du dich noch an den tödlichen Unfall bei Plast erinnern Eva?“

„Ja, klar. Das ist doch erst vor ein paar Monaten passiert.“

„Im November, genau am Ersten.“

„Das weißt du so genau?“

„Na ja,“ sagte die Cremer zögerlich.

„Nun red‘ schon. Ich habe doch dein Gesicht da auf der Straße gesehen.“

„Genau an jenem Tag saß ich mit meiner Tochter…“

„Wie alt ist deine Tochter jetzt eigentlich schon, 25?“

„Sie ist 32…“

„Wow,“ seufzte erstaunt die Paulus.

„… ja, ja. Die Zeit vergeht rasend schnell.“

„Je älter man wird, umso schneller scheint die Zeit zu laufen,“ pflichtete die Paulus bei, „wenn man das an den Kindern misst, saust die Zeit nur so dahin und wir … egal, erzähl weiter. Du hast mit deiner Tochter wo gesessen?“

 

Merseburg, Dienstag 1.November 2016

Wir wollten im ‚Goldenen Hahn‘ zusammen Abendbrot essen. Gerade hatten wir bestellt, da kam ein mittelgroßer, schlanker Mann, der etwa in meinem Alter sein musste, ins Lokal. Mir kam der Mann bekannt vor und deshalb war ich wohl aufmerksamer und bemerkte, wie er mit dem Kellner redete, denn die Gaststube war ziemlich voll. Dennoch herrschte hier immer eine ruhige Stimmung, sicher wegen der gepfefferten Preise. Dafür lohnte es sich aber auch, hier zu speisen, denn die ausgezeichneten Küche sorgte für einen geschmacklichen Hochgenuss. Das war wohl überhaupt der Grund für den guten Besuch an fast jedem Abend. Nach ein paar Minuten kam der Kellner zu uns an den Tisch. „Bei Ihnen sind ja noch zwei Plätze frei, darf ich einen davon einem älteren Herrn anbieten?“

„Vielleicht haben sie ja auch noch einen Jüngeren – dazu?“ bemerkte meine Tochter grinsend.

„Selbstverständlich“ sagte ich schnell, sah entschuldigend zum Ober und dann kopfschüttelnd zu meiner Tochter.

Wortlos verschwand der Kellner und wenig später setzte sich der Mann, einen Gruß, den ich nicht verstehen konnte, vor sich hin brummelnd.

Nur wenig später brachte der Ober ein Bier und einen braunen Schnaps, vermutlich irgendeinen Weinbrand, in einem ziemlich großen Schwenker. Das wunderte mich. Ich sah mir den Mann, der keinerlei Notiz von uns nahm, genauer an und war mir schnell sicher, dass ich ihn von irgendwoher kannte.

„Das klang doch,“ begann Svenja flüsternd, „ich meine den Gruß unseres Tischangehörigen, vermutlich – englisch?“ und sah mich an.

‚Genau,‘ dachte ich, ‚das könnte dann vielleicht der Leiter der Plastanlage sein.‘ Und der, das glaubte ich zu wissen, war ja Engländer.

Der Ober kam sofort mit einem zweiten Schnaps, als er sah, dass sein Gast ausgetrunken hatte.

‚Oh je!‘ – Jetzt verstand ich das Verhalten. Heute Vormittag hatte es den tödlichen Unfall in der Nachbaranlage gegeben. Hatte er, der übergeordnete Verantwortliche, den schwerwiegenden Fehler zu verantworten? Doch auch wenn er nicht direkt Schuld hatte, sie wusste von ihrem alten Chef und Freund Thomas Prost, dass einen Betriebsleiter bei so gravierenden Vorkommnissen immer ein Teil der Schuld zufiel, ganz abgesehen von der moralischen Mitverantwortung. Auch uns in der V-Fabrik war ja zu Ohren gekommen, dass es ein subjektiver Fehler gewesen sein sollte, der zu dem tödlichen Unfall geführt hatte. Wollte der Mann seinen Kummer ersäufen?

„Was grübelst du Mutter?“ fragte meine Tochter. Doch ich wollte ihr nichts von der Geschichte sagen, zumindest jetzt und hier nicht.

„Gefällt dir der Mann oder kennst du Ihn?“ Ließ sie nicht locker.

‚Beides,‘ dachte ich und sagte, „ich sehe, dass er Kummer hat, ich würde ihn gerne ablenken. Aber ich weiß nicht wie?“

Meine Tochter sah mich verstehend, mit einem kleinen Lächeln an und sagte dann laut, „was meinst du, Mutter, ist das braune da in dem tollen Schwenker etwa Goldbrand?“

Für einen Moment sah es so aus, als hätte der Mann das verstanden, denn er sah kurz zu uns, aber sehr schnell senkte er den Blick wieder auf sein Glas. Er trank mit ziemlich finsterer Miene seinen Schnaps mit einem Ruck aus.

Der Ober brachte prompt den dritten Schnaps.

„Ich weiß nicht, Svenja, gab es Goldbrand nicht nur in der DDR und war das nicht eigentlich ein ziemlicher Fusel?“

„Ach was, Mutter, der schmeckte doch besser als Whisky.“

Plötzlich sah der Mann meine Tochter an, „gab es denn in der Sowjetzo…“ er brach ab, weil das Lächeln aus den Gesichtern der Frauen verschwand, „…sorry, der DDR auch Whisky?“

„Keine Ahnung,“ antwortete Svenja wieder lächelnd, „ich habe mit vier Jahren das Land verlassen, in dem ich geboren worden bin.“

Am Gesicht des Mannes wiederspiegelte sich ungläubiges Staunen, aber er schwieg. Ich hatte das Gefühl, keine Ahnung warum, dass dieses belanglose Gespräch den finster blickenden Mann, von seinen schwerwiegenden, bedrückenden Gedanken ablenken könnte. Deshalb versuchte ich den Satz meiner Tochter mit besonders freundlich klingender Stimme zu erklären. „1989 ging die Ära der DDR zu Ende und bereits 1990 gehörten wir alle zur BRD.“

„Amazing“, murmelte der Mann, „yeah – das hatte ich vergessen. Entschuldigen sie.“

„Wieso denn entschuldigen,“ platzte meine Tochter los, schwieg dann aber abrupt.

„So ein Unsinn,“ fügte ich hinzu, „man hört es doch an ihrer Aussprache, dass sie nicht von hier sind. Darf ich sie fragen woher sie kommen?“

„Ich lebe schon seit 2001 in Deutschland, aber den englischen Slang werde ich wohl nie ganz los.“ Er schwieg, dachte nach, trank einen Schluck Bier, ließ aber den Schnaps stehen.

„Entschuldigen sie, mein Name ist Finley MacAskill. Ich bin kein Engländer, ich bin Schotte.“

„Ich bin Susanne Cremer und das ist meine Tochter Svenja.“

„Deligthed,“ sagte der Schotte, sah mich an und fügte hinzu, „sie sehen sehr jung aus dafür, dass sie so eine große Tochter haben.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, sagte Svenja nachdenklich, „Schotte? – Dann ist das tatsächlich Whisky in dem schönen Glas?“

„Ein Smokehead 18 – Ardbeg. Wenn sie wollen, I would be pleased, wenn sie diesen Whisky mit mir zusammen trinken.“ Ein leichtes Lächeln flog über das Gesicht des Mannes, dass mich mehr beeindruckte, als ich mir eingestehen wollte.

„Sorry,“ fuhr Svenja fort, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht, offensichtlich hatte ihr das Lächeln des Mannes auch gefallen und vermutlich hat sie außerdem meine Empfindungen gespürt, „ich muss noch fahren, aber ich hätte schon gern einen gekostet.“

Svenja, drehte ihren Kopf zu mir, „aber du vielleicht, Mutter?“

„Nein, auf keinen Fall,“ sagte ich zu schnell, überlegte erst dann, ich wollte ja unbedingt, dass der Mann sich nicht aus Kummer besäuft, sah aber gleich, dass meine Absage die gerade erst aufflackernde Offenheit im Gesicht des Schotten sofort wieder verschwinden ließ. Also versuchte ich eine Wende, „na ja, der ist doch sicher zu stark – für mich.“

Ich sah, wie meine Tochter sich das Lachen verkniff, denn sie wusste schon, dass ich gerade harte Sachen liebte. „Probiere doch mal den Whisky, Mutter, soviel ich weiß wäre das ja Premiere für dich?“

„Das würde mich freuen, Frau Cremer. Ich kann ihnen auch versprechen, dass dieser Whisky,“ er hob sein Glas etwas in die Höhe, ließ die Flüssigkeit behutsam kreisen, „sehr weich im Geschmack ist, trotz der etwa 46 % Alkoholgehalt.“

‚Das ist ja eigentlich normal‘, dachte ich und antwortete laut, „okay, den würde ich dann doch gern probieren.“ Bevor der Mann mir antworten konnte, fragte ich schnell noch, „wie teuer ist dieser Whisky?“ und zeigte auf sein Glas.

„Das weiß ich gar nicht genau,“ er überlegte kurz, „aber ich lade sie selbstverständlich …“

„… verstehen sie mich, bitte,“ unterbrach ich ihn etwas zu hastig, „ich möchte mich…“  Ich atmetet noch einmal tief durch, um ruhiger sprechen zu können, „… auch revanchieren können.“

„Aber nein, das müssen sie nicht,“ er überlegte einen Moment, „aber wenn sie sich schon revanchieren wollen, das verstehe ich, dann mit einem Getränk, dass sie gerne trinken, okay?“

Ich dachte nach und dabei muss ich wohl eher eine abweisende Miene gezeigt haben, denn plötzlich erhielt ich einen Tritt gegen mein Schienbein. Ich sah zu meiner Tochter und die funkelte mich wild an, was ich auch ohne Worte verstand.

„Sie haben Recht Herr MacAskill …“

„Bitte sagen sie doch Finley zu mir oder, wie meine deutschen Freunde das tun, Finne.“

„Okay, mein Vorname ist Susanne. Also, ich trinke einen Whisky mit ihnen und dann trinken wir auf meine Kosten einen russischen Wodka ‚Stolitschnaja Elite‘.“

B. Schlink, Die Frau auf der Treppe

Rezension Nr. 3

zum Roman ‚Die Frau auf der Treppe‘ von Bernhard Schlink

Inhalt:

Der Ich-Erzähler, Anwalt einer Frankfurter Kanzlei, erlebt als junger Mann im Sommer 1968 eine merkwürdige Geschichte: Damals willigte er ein, einen Vertrag aufzusetzen, der ein Tauschgeschäft – ein Akt-Gemälde gegen eine davongelaufene Ehefrau – zum Inhalt hatte. Nach mehr als 40 Jahren trifft er die Frau und die ‚Tauschpartner‘ wieder.

 

Kritik: … unsere Welt ändert sich nicht mehr …?

Wenn ich, Anni Kloß, ein Buch vom Diogenes Verlag in die Hand nehme, bildet sich in meinem Kopf automatisch eine ganz bestimmte Vorstellung über das, was ich noch gar nicht gelesen habe. Schon durch die äußere Gestaltung des Covers strahlt der Roman  ein ganz eigenes Flair auf mich aus. Beim heute rezensierten Buch erinnere ich mich noch daran, weil ich dieses Empfinden gleich am Anfang aufgeschrieben habe: künstlerisch verträumt, vorrangig in der Gegenwart spielend, aber mit einem Hauch vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts versehen. Die Frau stellt sich mir bildlich wie eine von Tucholskys Frauenfiguren dar. Ich weiß deshalb, dass ich Geduld mit mir haben muss, weil mich bei einem solchen Vorgefühl schnell Langeweile beim Lesen anspringt. Das war auch dieses Mal wieder so.

Doch auf Seite 143, als ich über Irenes Aufenthalt in der DDR las, regte ich mich zuerst auf, weil Schlink die DDR als ein totes Land beschreibt (vor dem der Westen scheinbar immer noch solche Angst hat). Zuerst dachte ich, dass der Autor nur schlecht recherchiert hat, denn er vergleicht das Leben in der DDR mit einer täuferisch-protestantischen Glaubensgemeinschaft, einem Biedermeier-Idyll!? – Doch dann erfahre ich, dass die Frau als eine von der BRD gesuchte Terroristin in der DDR untergetaucht war. Das änderte für mich die Situation von Grund auf, und zwar zum Positiven hin, denn mit den Vorstellungen eines solchen Menschen konnte ich die Darstellung der DDR verstehen.

Die Beschreibung der Gegenwart wird vom Kapitalismus beherrscht. Der Mann, der seine Ehefrau gegen das Bild ‚Die Frau auf der Treppe‘ zurücktauschen will, ist steinreicher Kapitalist, der genau weiß, dass die Parteien CDU und SPD seinen Besitz und seine Macht sichern werden: „…Die Geschichte geht weiter. Aber unsere Welt ändert sich nicht mehr …“ (Seite 156).

Der inzwischen erfolgreicher Maler, der das Bild, das er gemalt hat, gegen die Frau, die mit ihm durchgebrannt war, wieder zurückhaben will, hat der Ideologie des Kapitalisten: „Sie sind der Künstler, dem alles zu Gebot steht und der von allem Gebrauch macht und zu dessen Kunst es keine Alternative mehr gibt …“ (Seite 157), außer Sympathie für die Linken, „… die schönen klugen Frauen aus gutem Haus, die sich damals zu den Linken geschlagen haben, aus politischer Überzeugung und weil sie spürten, wo die Avantgarde ist, wo es lebendig und prickelnd zuging …“(Seite 159), nichts entgegenzusetzen.

Der erfolgreiche Rechtsanwalt, der das Tauschgeschäft anwaltlich begleitet hatte, der sich auch in das Weib verliebte, aber bei der Frau als Mann nicht zum Zuge kam, kümmert sich in der Gegenwart um die inzwischen schwer kranke Frau. Er wird vom Kapitalisten abgefertigt: „… Teure Kanzlei, ich weiß, große Fälle, aber immer für andere die Drecksarbeit erledigen – Sie sind ein Lakai. Zuerst waren sie seiner (nickt zum Maler), dann meiner, dann ihrer (zur Frau). Sie halten am besten den Mund …“ (Seite 162)

Schlink schreibt wie gewohnt flüssig, die Handlungsorte passen, der Bezug zur Realität ist gegeben.

Der 70-jährige Autor hat mit der Grundstory eine gute Möglichkeit gefunden, über sein Leben zurückblickend zu philosophieren.

Das ist ihm im großen Ganzen so gelungen, dass es gut lesbar ist.

Bewertung:

  1. Inhalt, Story (Faktor 1): Die Thematik ist interessant, die Story gut entwickelt und logisch aufgebaut.

Bewertung: 4

  1. Der Sachverhalt (Faktor 1), die Situation der Hauptpersonen, die Schilderung der Gesellschaft entspricht der Realität. Auch die Konstruktion des Romans ist nachvollziehbar.

Bewertung: 4

  1. Der Stil (Faktor 1) ist flüssig, nach anfangs etwas langweilig, aber dann interessant.

Bewertung: 4

  1. Recherchen (Faktor 0,5) rufen keinen Widerspruch beim Leser hervor.

Bewertung: 3

  1. Die Handlungsorte (Faktor 0,5) sind ausreichend gut beschrieben.

Bewertung: 3

  1. Kritische Aspekte zur existierenden Realität, zur Politik, zum Leben der Menschen und Hinweise zum Bessermachen (Faktor 1): Es sind gute Ansätze dazu vorhanden, aber warum glaubt der Autor, dass unsere Welt sich nicht mehr ändert? Die Hauptaussage der dialektischen Grundgesetze der Entwicklung ist doch meines Erachtens, dass das Erkennen ein unendlicher Prozeß ist. – Oder?

Bewertung: 2

Summe Bewertung: 3

Dave Eggers, ‚Der Circle‘

zum  Roman ‚Der Circle‘  von Dave Eggers

Inhalt:

Mae Holland wird von dem Internetkonzern „The Circle“ angeheuert. Ziel des Unternehmens ist, durch vollkommene Transparenz ein neues Zeitalter einzuläuten. E-Mails, Social Media, Bankdaten, Einkaufsverhalten werden vernetzt und zu einer Online-Identität verdichtet. Mae kann es kaum fassen: Sie darf für den einflussreichsten Konzern der Welt arbeiten! Doch was genau ist ihre Rolle? Dieses Buch beginnt als faszinierende Geschichte einer ehrgeizigen jungen Frau, wird jedoch bald zu einem spannenden Thriller, der Fragen nach Privatsphäre, Demokratie und den Grenzen menschlichen Wissens aufwirft.

Kritik: Überholen ohne Einzuholen?

Leser, die in der DDR aufgewachsen sind oder zeitweilig dort gelebt haben, werden sich vielleicht an die Parteiparole ‚Überholen ohne einzuholen‘ erinnern. Die meisten haben darüber nur gelacht, weil der Spruch nicht nur unlogisch klingt, sondern auch mit der Bedeutung, den kapitalistischen Westen wirtschaftlich innerhalb sehr kurzer Zeit zu überholen (ohne einzuholen), vollkommen absurd erschien, denn die reale Gegenwart sprach zu sehr gegen dieses ehrgeizige Ziel.

Bereits am ziemlich langweiligen Anfang des Romans fielen mir bestimmte Ähnlichkeiten zur DDR-Vergangenheit auf. Die ständigen Wiederholungen von Formulierungen, wie auf Seite 38: ‚Alle lieben Annie‘, erinnerten mich an den Stasichef Mielke. Was hat dieser Mann zur Wendezeit vor den Medien verkündet? ‚Ich liebe euch alle!‘

Bei der Beschreibung der überfreundlichen, super-schlauen, sau-fleißigen Beschäftigten des Circle viel mir sofort eine Schneeballfirma mit Sitz in den USA ein, die sich in gleicher Weise präsentiert, mit dem Ziel, Menschen durch den Kauf von total überteuerten Nahrungsergänzungsmitteln, abzuzocken.

Doch am meisten war ich verblüfft, als mir beim Lesen des Buchs von Eggers, Parallelen zum utopischen Kommunismus auffielen und genau dieser oben zitierte Spruch mir in den Kopf kam. Als ich nur wenig später herausfand, dass die Hauptperson Mae, keine hochwissenschaftliche Arbeit, sondern die Aufgabe hat, Kunden zu betreuen, also ein Auftrag ähnlich einem Callcenter, hätte ich das Buch beinahe in die Ecke gefeuert. Insbesondere die Aufforderung, dass der Besteller den Bearbeiter sofort benoten soll, berührte mich sehr unangenehm, denn im Internet nervt mich schon heute jede Forderung nach einem Feedback, weil ich da erst recht das Gefühle habe, nur einen Automatismus zu befriedigen.

Zum Glück tat ich das nicht, sondern las weiter, obwohl die Informationsflut in Form von Zings, Feeds, E-Mails u. a. m., die Eggert auf etlichen Seiten anhäuft, mich ziemlich nervten, denn mir wurde klar, dass ich, um das alles zu verarbeiten, die gesamte freie Zeit meines restlichen Lebens dafür benötigen würde. Allerdings weiß ich wohl, dass man auf diese Informationen auch sehr gut verzichten kann. Nicht verzichten kann man auf die tiefgründige Hinterfragung der existierenden und der anzustrebenden demokratischen Staatsform, was Eggers aus meiner Sicht auf hohem Niveau und mit den Möglichkeiten der neuen Social Medien im 2. Teil seines Buchs, auf spannende und unterhaltsame Art und Weise tut. In nachfolgender Tabelle habe ich das Wichtigste zusammengefasst:

 

Circle-These (s. Seite 346) Antithese (s. Seite 550)
Geheimnisse sind Lügen Wir müssen alle das Recht auf Anonymität haben

Wir müssen alle das Recht haben zu verschwinden.

Teilen ist heilen Die ständige Jagd nach Daten, um den Wert eines jeden Vorhabens zu quantifizieren ist katastrophal für wahres Verständnis. Nicht jede menschliche Aktivität ist messbar
Alles private ist Diebstahl Die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem muss unüberwindlich bleiben

Und genau das ist die Thematik über die sehr viele Menschen, so auch ich, angestrengt nachdenken, versuchen die richtigen Thesen zu formulieren und verzweifelt nach den wesentlichen, praktisch durchführbaren modernen Mitteln zu suchen, um unseren verkorksten westlichen Demokratien, die bald (vielleicht schon heute) keine mehr sind, im Interesse der Menschheit, aus der Krise zu helfen.

 

Bewertung:

  1. Inhalt, Story: Der Roman ist nicht immer interessant und unterhaltsam gestaltet, weil bestimmte Passagen mit gleichem Inhalt vom Autor zu sehr ausgewalzt werden. Die könnten zwar überblättert werden, aber dann muss man sehr aufpassen, dass der Beginn der wichtigen Passagen nicht übersehen wird. Außerdem empfinde ich viele Passagen als philosophischen Sadismus, z. B. das Gespräch von Mae mit einem der drei Weisen(!), auf den Seiten 316ff. Und das tut weh. Muss man sich das antun?

Bewertung: 3

  1. Der Sachverhalt hat einen frappierenden Bezug zur Realität. Der demokratische Staat wird kritisch hinterfragt. Die Behandlung dieser Thematik erscheint mir sehr wertvoll.

Bewertung: 5

  1. Der Stil ist flüssig, aber manchmal auch ein wenig langweilig.

Bewertung: 3

  1. Die Recherchen sind sehr gut, die Nachprüfbarkeit ist mit den zum Teil angeführten sozialen Netzwerken, wie Facebook, Twitter und Google gegeben. Der Autor weiß wovon er schreibt.

Bewertung: 5

  1. Die Handlungsorte sind ausreichend gut beschrieben. Vielleicht bis auf die großartigen Firmengebäude (wohl von Eggers wegen der wissenschaftlichen Bedeutung als Campus bezeichnet) mit den modernsten Arbeitsplätzen, deren Räume teilweise mit vielen, vielen Büchern ausgestattet sind? – Aber das alles hat in diesem Roman auch keine so große Bedeutung.

Bewertung: 3

  1. Kritische Aspekte zur existierenden Realität, zur Politik, zum Leben der Menschen und Hinweise zum Bessermachen: Die Thesen und Antithesen zur Thematik Demokratie ist gleichzeitig Kritik und Hinweis für weiteres Handeln.

Bewertung: 5

Summe Bewertung: 4 Sterne