Tag-Archiv | Menschen

Tod

Tod

von Anni Kloß *)

Das Leben wurde schwerer.
Kleine Hilfen mussten sein.
Die Not des Augenblicks
Gebärt Gedanken für kleine Tricks.
An die – er – vorher nicht denkt.
Das Leben wird eingeschränkt.

Manche Menschen wissen nicht,
wie wichtig es ist, dass sie einfach da sind.

Die Sonne scheint heller.
Welch merkwürdiges Licht.
Im Kopf summt ein Propeller.
Und doch stört er mich nicht.

Manche Menschen wissen nicht,
wie gut es tut, sie nur zu sehen.

Ein Ton trifft das Herz.
Für den Toten unhörbar.
Verbunden mit Schmerz
Wirkt er zerstörbar.

Manche Menschen wissen nicht,
wie wohltuend ihre Nähe ist.

Die Hoffnung stirbt nie
Und doch endet auch sie.
Mit den Grenzen fürs Leben,
Die die Kriterien vorgeben.

Manche Menschen wissen nicht,
wie tröstlich ihr gütiges Lächeln wirkt.

Die Kennzeichen sind erkennbar,
Nur wenig beeinflussbar.
Im letzten Augenblick – unumstößlich.
Für die Zurückbleibenden – untröstlich.

Manche Menschen wissen nicht,
dass sie ein Geschenk des Himmels sind.

Nicht mehr ruft, nicht mehr flüstert die Natur.

Manche Menschen wissen nicht,
wie viel ärmer wir ohne sie sind.

*) mit Unterstützung von Paul Celan und Ingeborg Bachmann

Apps, der Automat

Eine kleine Geburtstagsgeschichte

Frau Henni ging in den Keller, um Zwiebeln und Kartoffeln für das Mittagessen zu holen. Sie nutzte diese Gelegenheit dazu, ins ehemalige Zimmer ihres jüngsten Sohnes zu gehen, das sich die beiden Alten, Henni und Herwig, als Studierzimmer eingerichtet hatten, um auf dem Bildschirm ihres PCs die Emails zu checken und zu beantworten oder auf Skype Videos und Bilder ihrer Söhne und Enkel anzusehen und zu kommentieren. Heute fühlte sie sich außerdem verpflichtet ihren Mann mit einer Erinnerung auf den Wecker zu fallen, denn dessen Schwester Helga hatte heute Geburtstag. Henni hörte schon die Antwort, ‚Henriette,‘ das sagte er immer, wenn er mich ärgern wollte, ‚das weiß ich doch! Du nervst.‘ Scheinbar  gab er alle seine… und ihre Termine in den Laptop ein und der alarmierte immer rechtzeitig, – behauptete er. Na ja, sie, für sich persönlich, traute der Technik nur sehr begrenzt. Oft genug hatte sie es schon erlebt, dass durch irgendwelche Fehler schlagartig alle diese Daten verschwunden waren, ja und dann? Die Software wäre zwar immer besser geworden, sagt mein Mann, aber er gab auch zu, dass die oft nur kleinen Veränderungen durch neue Updates, die zwar die Programme zuverlässiger als früher machten, aber andererseits auch ihm, dem Ingeniör, immer häufiger Schwierigkeiten bereiteten, weil er nicht gleich kapierte, wie die Änderung zu handhaben sei, ohne einen Fehler zu machen.  Genau, einen Fehler und – weg war das Adressbuch oder eben die Geburtstage. Also erinnerte sie ihn sozusagen prophylaktisch.

„Wann willst du denn deine Schwester anrufen?“

„Gut, dass du fragst, mein PC hat auch schon gepiept,“ er sah lächelnd zur Frau auf, „wollen wir gleich anrufen?“

„Wie spät ist es denn? Du weißt …“

„… gleich neun, das müsste doch gehen?“

„Ja, ja Helga ist sicher aufgestanden und Hans stört das Klingeln nicht.“

Helga, die drei Jahre ältere, selbstbewusste, couragierte Schwester, eine promovierte Zahnärztin im Ruhestand, lebte mit ihrem Mann Hans, einen Gymnasiallehrer für Mathe und Physik nach wie vor in der kleinen idyllischen Provinzstadt Osterburg. Ja, mit seiner Schwester hatte Herwig immer etwas Besonderes  verbunden und er glaubte nicht nur, weil sie verwandt miteinander waren. Mit ihr konnte er sich sowohl sehr gut unterhalten als auch streiten, fruchtbringend streiten. Allerdings war das wohl vor allen Dingen Helgas Diplomatie zu danken. Die Schwester konnte sich viel besser beherrschen als ihr jüngerer Bruder. Weshalb der Bruder ihr schon ab und zu herzloses Verhalten vorgeworfen hatte, indem er ihr dann ‚herzlose Sandra‘ an den Kopf warf. Das ist der Name einer Figur, die aus den Geschichten herrührte, die ihre Mutter den beiden Kindern im Bett erzählt oder vorgelesen hatte.

„Gut,“ Herwig griff zum Telefon, „rutschen wir ein bisschen zusammen, dann kann ich den Hörer hier,“ er zeigte auf die Ecke seines Schreibtisches, „ablegen und laut stellen.“

Der Mann wählte die Nummer aus dem internen Telefonbuch, drückte zweimal auf den grünen Knopf, beide hörten die schnelle Reihenfolge der Laute, als die Zahlen eingelesen wurden und wenig später das Besetztzeichen, ein schnell aufeinanderfolgendes, „piep, piep, piep…“

„Scheiße besetzt.“ Er wartete ein paar Sekunden, wählte dann erneut und … jetzt, mit größeren Abständen, piep – piep, das Rufzeichen. Schneller als erwartet hörten sie eine fremde Stimme:

„Hier ist der private Telefonautomat Apps von Hans und Helga Meinecke. Bitte sagen sie nach dem nächsten Piep ihren Namen – Piep.“

In die Stille hinein und etwas vom Telefon abgewandt fragte Herwig, „sag mal, haben wir uns verwählt?“

„Aber der Name hat sich doch wie Hans und Helga Meinecke angehört?“ flüsterte die Frau.

„Das habe ich nicht verstanden, bitte wiederholen sie.“

„Mensch, Max Balladu, verdammt,“ knurrte der Mann laut in Richtung Telefon.

„Mensch Max Balladu verdammt,“ reagierte der Automat, „wenn die Angelegenheit

  • beide betrifft, drücken sie die           1
  • Nur für Hans wählen sie die             2
  • Nur für Helga wählen sie die            3“

Herwig drückte hastig die 2. „Mist! Verdrückt!“

Der Automat spulte weiter sein Programm ab

  • „Wollen sie Hans eine Nachricht hinterlassen drücken sie die      1
  • Für eine Anfrage die                                                                                2
  • Für ein Gespräch drücken sie die                                                         3“

„Gottverflucht, wie kann ich mich denn korrigieren, ohne das Gespräch…“

„Mensch Max Balladu verdammt drücken sie eine Zahl zwischen 1 und 3“

quatschte der Automat dazwischen.

Herwig drückte zornig die 1.

„Sie haben 20 Sekunden Zeit, Piep.“

„Mensch ich wollte doch nur…“

„… du kannst doch zu Hans nicht einfach Mensch…“

„… na Helga hat doch – ich habe mich vertippt, entschuldige Pit.“

„Danke für die Nachricht Mensch Max Balladu verdammt.“

Noch bevor Herwig das Gespräch beenden konnte, piepte es wieder in der Leitung, der Automat hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

„Was sagst du dazu Weib?“ Herwig starrte seine Frau an, aber die erwiderte nur verständnislos seinen Blick. „Das hätte ich meiner Schwester gar nicht zugetraut. – Aber – Interessant.“

„Gibt es denn solche Apparate inzwischen tatsächlich?“ Die Frau glaubte immer noch im falschen Film zu sein.

„Programmiertechnisch ist das überhaupt kein Problem. Der Name des Automaten heißt vermutlich nicht zufällig Apps, denn eine App besteht ja mehr oder weniger aus kleinen Programmen.“ Herwig starrte auf den Hörer, „aber ist das auch nützlich? – Egal, ich will wissen, was Apps noch drauf hat.“ Herwig drückte die Wahlwiederholung, schaltete durch nochmaliges Drücken wieder den Lautsprecher an, behielt aber das Mobilteil in der Hand.

Dieses Mal nannte er schnell seinen richtigen Namen, Herwig Flessel, drückte bei der ersten Abfrage die 3 für Helga und dann die Taste 2 für eine Anfrage.

„Frau Hedwig Flessel,“ sagte der Automat, „wenn sie eine Fremde sind

  • drücken sie die             1

wenn du eine Verwandte bist

  • drücke die                         2

wenn du eine Freundin bist

  • drücke die                         3“

Herwig drückte die 1.

„Sie haben für ihre Anfrage an Frau Dr. Helga Meinecke 20 Sekunden Zeit. Sprechen sie nach dem Piepton. – Piep.“

„Hier ist nochmal der Mensch Max Balladu ohne verdammt. Ich rufe nur an, weil ich weiß, dass sie, Frau Doktor, mein Buch ‚Ein Mensch 08-15? gelesen haben. Da der Titel ein Fragezeichen enthält, würde ich gern wissen, wie sie persönlich diese Frage beantworten. Danke im Voraus.“

„Danke für die Anfrage an Frau Dr. Helga Meinecke.“ Piep, piep, piep.

„Jetzt mach‘s doch mal richtig, Mann.“

„Was heißt hier richtig,“ empörte sich der Mann, „ich habe alles richtig gemacht, aber der Automat…“

„Gib her, jetzt bin ich dran.“ Henni griff sich das Telefon, wählte die Nummer noch einmal komplett neu, der Ruf ging raus und nach drei Sekunden meldete sich wieder der Automat. Sofort drückte sie das Teil wieder ihrem Mann in die Hand. Scheinbar hatte sie gedacht, dass der vorher doch etwas falsch gemacht hatte, und dass sich jetzt das Geburtstagskind direkt melden würde. Aber auf keinen Fall wollte sie mit einem Automaten reden.

Herwig fackelte nicht lange, sprach seinen Vornamen ganz langsam und deutlich aus, dann drückte er zuerst die 3, dann nochmal die 3 für ein direktes Gespräch mit Helga. Die nächste Abfrage beantwortete er mit der 2, also verwandt, und wartete gespannt auf die Antwort.

„Hallo Wicki, ich verbinde.“

Herwig vernahm das Knacken, und nur eine Sekunde später hörten sie beide die Stimme seiner Schwester Helga. „Meinecke.“

„Hallo Schwesterchen! Hier sind Henni und Herwig…“

„…hallo!“

„… herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schwesterlein und …“

„…Gesundheit, Freude…“ ergänzte Henni

„Danke ihr beiden. Das ist…“

„Sag mal Schwesterchen, was hast du denn mit deinem Telefon gemacht?“

„Das fragst gerade du Wickie, Brüderlein? Du hast doch immer gesagt, dass mein Apparat zu alt ist, ihr mich schlecht versteht und jetzt habe ich einen neuen gekauft und das ist dir auch nicht recht?“

„Ja, das stimmt,“ meldete sich Henni, denn am häufigsten telefonierten die beiden miteinander, „wir haben dich manchmal nur sehr schlecht verstanden. Das ist heute auf alle Fälle viel besser…“

„… aber von einem solchen Apps,“ unterbrach Herwig, „habe ich ja noch nie was gehört. Wie bimmelt das Ding denn, wenn ich nur Hans oder, wie heute, nur dich sprechen will?“

„Da gibt es keinen Unterschied.“

„Wie bitte? Wozu dann die ganze Fragerei? Das hat ja ewig gedauert.“

„Ja, du sagst es. Anfangs hat zu den Ansagen des Automaten, wenn man ihn später abgehört hat, auch eine IQ-Angabe zum jeweiligen Anrufer …“

„…was Schwesterchen, das ist ja toll, dann…“

„Vorsicht Brüderchen, du hast ziemlich viel Zeit gebraucht, wie du ja selbst festgestellt hast und dann hätte da gut rauskommen können, dass …“, sie stockte unsicher, „naja, ich will dich auf keinen Falle Beleidigen, aber…“

„…ich doch nicht so schlau bin, wie ihr alle immer dachtet, sondern nur ein IQ von 100, also Durchschnitt, habe?“

„Genau das wollte ich vermeiden, weil es ja Quatsch ist mit nur wenigen Aussagen, wie Zeit, Ausdrucksweise und richtiger Grammatik eine Intelligenz zu best…“

„…ach, Schwesterlein, aber lustig wäre es schon gewesen. Ich bin zum Beispiel schon froh, dass wir überhaupt durchgekommen sind und nicht in Panik aufgegeben haben.“

„Ich habe mir das vom Verkäufer aufschwatzen lassen, aber…“

„…so viel Humor hätte ich dir gar nicht zugetraut, Schwesterlein, aber – sehr gut, das haut mich glatt um…“

„…muss ich jetzt auch immer,“ mischte sich Henni in das Gespräch ein, „zuerst mit dem Automaten sprechen,“ fragte Henni mit sorgenvoller Stimme.

„Ach was, Henni, wenn der Automat deine Stimme hört, stellt er dich sofort durch.“

„Gott sei Dank, denn sonst hätte ich mich gar nicht mehr getraut dich anzurufen.“

„Das würde ich sehr bedauern, Henni, die Gespräche mit dir sind immer sehr informativ, denn mich interessiert jeder einzelne in eurer großen Familie.“

„Das ist das Stichwort. Wie geht es Hans? Was machen die Italiener? Wie geht es der slowakisch-deutschen Familie?“

Während die Frauen mindestens noch eine halbe Stunde miteinander schwatzen würden, setzte Herwig sich wieder ab in den Keller, seine Frau würde ihm ohnehin jede Einzelheit des langen Telefongesprächs übermitteln, ob er das wollte oder nicht.

Leseprobe Buch 9

Leseprobe aus ‚Lose Blätter‘, dem 9. Buch von Max Balladu

EWa – Weggefährten (1)

Ich war 14, hatte ein sonniges Gemüt und war pummelig, was zur damaligen Zeit kein Makel war. Der Vorgarten war der mir vom Vater zugewiesene Beitrag zur Pflege von Haus und Garten. Dort war ich bei eitel Sonnenschein im Sommer und schwitzte. Auf einmal fiel ein Schatten über die Beete.

Als ich aufsah, stand da ein fremder, etwa gleichaltriger Junge und grinste.

„Tach, ich bin Bahni.“

„Was für ein Name!“

„Na eigentlich heiße ich Klaus-Dieter Bahnhof. Wer will schon so heißen! Also nannten mich alle seit dem Kindergartenalter Bahni. Das ist was Besonderes, also gut.“

Ja, so war er, er musste immer irgendwie aus der Reihe tanzen, bei dem was er tat, sagte oder wie er aussah. Er erklärte mir, dass er zu seiner Mutter in das gegenüberliegende Haus gezogen war. Seine Mutter hatte den Witwer geheiratet, der dort lange allein gewohnt hatte. Sie hatte ihren Sohn noch bei ihrer Verwandtschaft gelassen, bis sie sich sicher war, dass ihr neuer Mann mit diesem besonderen Sohn fertig werden könnte.

Nun also war er hier.

Mir gefiel, wie er aussah und ich bewunderte seine Kühnheit, mich einfach anzusprechen, so allein, nur er und ich. Normalerweise passierte das Kennenlernen Gleichaltriger in der Gruppe. Aber wir verstanden uns sofort. Er war lustig und bei Erwachsenen immer höflich. Das gefiel auch meinen Eltern. Sie vertrauten ihm. In seiner Gesellschaft durfte ich später, mit 16! zum Tanzen ins Nachbardorf. Mit dem Fahrrad erreichten wir alle Tanzflächen bis etwa 15 km Entfernung von zu Hause. Wir hatten eine tolle Abmachung. Wir fuhren gemeinsam hin, tanzten den ersten Tanz und auch den letzten und was in der Zwischenzeit passierte, ging den jeweils anderen nichts an. Mir ging es gut dabei, ich hatte einen Beschützer und war ihm dennoch zu nichts verpflichtet.

Um diese Zeit herum richtete unser Dorf auf dem Saal der Gaststätte den Talente Wettbewerb im Schlager- und Volksliedergesang aus. Natürlich wollten wir Mädchen sehen, wen wir kannten von denen, die sich auf die Bühne trauten. Ich glaubte zu träumen. Da stand doch wirklich Bahni auf der Bühne und sah zu mir herüber. Er sang ‚Marina, Marina, Marina‘ mit meinem Namen. Ich versuchte zu lächeln, aber am liebsten hätte ich mich unter dem Tisch verkrochen. Alle sahen mich an. Ich war puterrot und schämte mich. Wieso eigentlich? Hätte ich nicht stolz sein können, dass da einer für mich sang? Öffentlich? Ob er mit diesem Schlager einen Platz gewonnen hat, weiß ich nicht mehr.

Aber an eine andere, für ihn typische Begebenheit, erinnere ich mich genau. Mein Zimmer lag zur Hofseite raus. Ich war gerade ins Bett gegangen, da fielen kleine Steinchen an mein Fenster. Zuerst war ich erschrocken, doch dann dachte ich, dass das nur Bahni sein könnte. Also lugte ich hinter der Gardine hervor. Da stand er und hielt einen großen Strauß Blumen in der Hand. Ich öffnete das Fenster, er sprang in die Höhe, ich griff nach dem Strauß, er winkte und schon war er verschwunden. Rot waren die Blumen. Wie sonst? Es waren viele rote Tulpen. Ich umarmte sie, stellte sie dann lächelnd in eine passende Vase und diese wiederum in den Hausflur auf die Konsole, auf der das Telefon stand. Wir hatten nämlich als eine der wenigen Familien im Ort ein Telefon, weil mein Vater selbständig war. So kam es häufig vor, dass Leute aus der Straße zu uns kamen oder bei uns Anrufe ankamen und wir die entsprechenden Personen ans Telefon holen mussten. Am anderen Tag musste ich Frau Kahle holen, die drei Häuser weiter wohnte. Sie kam auch gleich mit. Als sie unseren Hausflur betrat, schrie sie: „Da sind ja meine Tulpen!“ Ich verschwand in mein Zimmer und hoffte, dass mein Vater nichts von dem Vorfall mitbekommen hatte. Als Frau Kahle mit dem Telefonat fertig war, hatte sie sich schon etwas beruhigt, rief mich und meinte nur:  „Na so ein Lümmel, aber kannst die Blumen behalten, sieh dich nur vor, wer beim Nachbarn Blumen stiehlt, wird später auch andere Dinge stehlen.“

Sei behielt nicht recht. Aber Blumen hat er mir noch öfter gebracht. Von denen erfuhr ich aber nicht, woher sie waren. Ich nahm sie und freute mich, trotz eines mulmigen Gefühls. Denn es waren nie Blumen, die im Garten seiner Eltern wuchsen.

Jahre vergingen, wir feierten Geburtstage, Silvester, Schulabschlüsse gemeinsam mit Freunden. Oft bei Bahni im Elternhaus. Vater und Mutter quartierten sich für zwei Tage bei Bekannten ein und Bahni und ich beseitigten am Morgen nach der Fete die Spuren und Reste. Doch meist uferten unsere Treffen nicht aus und wir hatten manchmal auch am Tag danach noch Hilfe von den Freunden. Wenn die Mutter Bahnis am Mittag auf der Matte stand, verlief die Abnahme immer ohne Beanstandungen. Bloß gut, dass alle anderen Eltern, auch meine, waren nicht bereit, ihre Wohnungen für unsere Feiern zur Verfügung zu stellen.

Inzwischen hatte ich in Jena mit dem Studium begonnen und schwänzte jeden zweiten Sonnabend die Vorlesungen, um nach Haus zu fahren. Oft erwartete mich Bahni auf meinem Umsteigebahnhof Magdeburg und fuhr dann mit mir gemeinsam mit dem Personenzug in unser Heimatdorf. Doch einmal, im Dezember, hatte er die verrückte Idee, wir könnten doch noch den Weihnachtsmarkt in der Bezirkshauptstadt besuchen. Nur ein paar Pfennige in der Tasche, aber voller Neugier, liefen wir an den Buden vorbei, freuten uns über die bunten Auslagen und staunten über die großen Karussells. Dann war da eine riesige Rutsche, die man auf Kokosmatten sitzend, herunterrasen konnte. Nur einmal, nur einmal möchten wir da rutschen. „Du musst lächeln, dem Kartenverkäufer in der Bude schöne Augen machen, vielleicht darfst du für die Hälfte des Preises.“ Wir hatten unser Klimpergeld gezählt und festgestellt, dass es nur für ein und eine halbe Karte reichte. Mit heftigem Herzklopfen näherte ich mich dem Kartenhäuschen. Bahni blieb weiter weg stehen. Günstig war schon mal, dass der Mann jung war und ihm die Anlage sicher nicht gehörte. Es klappte mit unserem Plan, er verkaufte mir eine Kinderkarte und eine für Erwachsene. Wir hofften nur, dass oben, wo die Matten lagen, der Kontrolleur nicht so genau hinsah. Beim Abwärtssausen schrien wir vor Glück, weil unser Plan aufgegangen war und weil die rasende Fahrt sich einfach herrlich anfühlte. Beschwingt gingen wir zum Bahnhof, stiegen in den Zug nach Hause, unsere Augen leuchteten, ja man kann sagen, wir waren glücklich. Da kam die Schaffnerin in unser Abteil. Bahni stand auf und verschwand ganz lässig. „Bis zu Hause.“ Was? Wo wollte er denn die nächste halbe Stunde bleiben? Ich war ziemlich naiv. Er hatte keine Fahrkarte und da er ohne Eile ging, schöpfte die Kontrolleurin wahrscheinlich keinen Verdacht. Im Heimatort angekommen, nahm er meinen Koffer und sagte: „Hast du gut gemacht.“ Was hatte ich gut gemacht? Nahm er etwa an ich hätte der Schaffnerin eine Geschichte über sein Verschwinden vorgelogen? Wir haben nie wieder darüber gesprochen.

Ein Jahr später war ich verheiratet, hatte eine Tochter und konnte nur noch selten nach Hause fahren. Nach dem Studium wohnte ich in einer schönen Stadt am Rande des Erzgebirges. Doch das war auch schon alles, was schön war. Mein Mann betrog mich, ich war mit Kind, Arbeit, Haushalt und dem unzuverlässigen Mann völlig überfordert. Nach eineinhalb Jahren ließ ich mich scheiden. Einige Wochen vergingen, da klingelte es Sturm an meiner Wohnungstür. Ich empfand dieses Sturmklingeln als ungehörig, noch dazu, wo es schon fast 22 Uhr war. Als ich die Tür öffnete stand Bahni schwankend und schmutzig vor mir. „Entschuldige,“ lallte er, „ich musste mir erst Mut antrinken. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Ich zog ihn ohne Worte in die Wohnung, legte den Finger auf den Mund, damit er leise war und ihn ins Bad verfrachtet. „Wasch dich, ich mache dir eine Schlafgelegenheit zurecht.“ Er gehorchte. Aus Decken und zwei Sofakissen baute ich ihm auf der Erde in der Stube ein ‚Bett‘. Ohne Widerstand legte er sich wie ein Hund vor mein Bett und schlief sofort ein. Jetzt erst merkte ich, wie angespannt ich war. Langsam lösten sich meine Bedenken.

Am anderen Morgen ließ ich ihn schlafen, brachte meine Tochter in den Kindergarten und ging selbst zur Arbeit. Meinen zweiten Wohnungsschlüssel hatte ich vor seinen Kopf gelegt, mit der Bitte gut abzuschließen und den Schlüssel in den Postkasten zu werfen. Dort fand ich ihn auch vor, als ich nach Hause kam. Doch am Abend, dieses Mal zur rechten Zeit, stand Bahni wieder vor der Tür. Ich glaube, ich hatte so etwas auch erwartet. Von der Nacht vorher sprachen wir nicht, es war ihm sichtlich peinlich und ich wollte über meinen Ärger nicht mit ihm sprechen. Dieser Abend wurde aber schön. Wie früher. Er erzählte von seinem jetzigen Studium ganz in der Nähe. Ich erzählte von meinem Heimweh und beide lachten wir über alte Begebenheiten. Wir tranken Wein, aßen ein paar Häppchen und fühlten uns beide sehr verbunden. Noch immer bin ich dankbar, dass er nicht versucht hat, unsere Freundschaft in eine Liebelei umzumünzen. Er bereitete dieses Mal seine Schlafgelegenheit mir zu Füßen und sang für mich noch ein Schlaflied, leise, damit meine Tochter im Nebenzimmer nicht wach wurde. Am Morgen verließen wir zu dritt die Wohnung. „Wie eine richtige Familie,“ schoss es mir durch den Kopf. Aber gleichzeitig signalisierte mein Gehirn: Niemals!

Zweimal kam er noch in den zwei Jahren, die ich dort zu Hause war. Danach hatte ich mich in die Heimat versetzen lassen, mir ging es gut – auch ohne Mann.

Plötzlich tauchte Bahni wieder bei mir auf, nüchtern, aber irgendwie angestrengt. Komisch war für mich, dass ich mich nicht freuen konnte. Hatten wir uns zulange nicht gesehen? Waren wir uns fremd geworden? Ich mahnte mich zur Vorsicht. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass ich instinktiv gespürt hatte, dass dies kein gutes, kein einvernehmliches Zusammensein werden könnte. Unser Gespräch bleib angespannt. Bis er ganz plötzlich über den Tisch langte und mich zu sich heranzog. Ich wehrte ihn ab und meinte, er solle gehen, wenn er seine Hände nicht bei sich behalten könne. Da wurde er wütend, umschlang mich von hinten und begrabschte mich. Blitzschnell liefen in meinem Kopf Möglichkeiten ab, wie ich ihn bändigen und rausschmeißen könnte. Keinesfalls dürfte ich Lärm machen, denn meine Tochter schlief nebenan. Scheinbar tat ich intuitiv das Richtige. Ich sagte ruhig, „sieh mal, willst du alles kaputtmachen? Wir haben uns immer gegenseitig vertraut. Soll das nun zu Ende sein?“ Er lockerte seinen Griff und schob mich sacht beiseite. Ohne ein weiteres Wort ergriff er seine Jacke und verließ das Haus. Noch einmal war er wiedergekommen. Aber zwischen uns war eine Mauer. Ich war voller Vorsicht und er scheinbar voller Schuldgefühle. Wir haben uns nie wiedergesehen.

Er hatte eine Gastwirtin geheiratet, mit ihr ein gutgehendes Hotel betrieben und rief mich mehrmals an, um mich zu sich einzuladen. Ich lehnte jedes Mal ab. Dann kam ein Anruf, der mich erschreckte: Es ginge ihm nicht gut, er habe schon zweimal Chemo überstanden, er würde mich gern noch einmal sehen. Ich verneinte, wünschte ihm dennoch alles Gute und legte den Hörer auf. Es kann kein Anruf mehr. Ein Jahr später erzählte mir seine Mutter, dass er an Krebs gestorben sei.

Alles in allem denke ich gern an diesen ‚Weggefährten‘ zurück. Er hat, wie kein anderer, meine Kindheit und Jugend bunter gemacht.

 

Balladus neues Buch: ‚Lose Blätter‘

Hallo liebe Lesefreunde! 

Mit dem 9. Buch veröffentlicht Max Balladu als Herausgeber eine Anthologie unter dem Titel: 

‚Lose Blätter‘ 

eine Blütenlese mit Erzählungen und Gedichten von: 

EWa, Jörg Körner, Anni Kloß, Mimi H, Heiz Schubert, Helene Paetz und Max Balladu.

 Wie bereits bei den vorherigen Lesungen stellt in diesem Falle der Herausgeber das neue Buch in zwei öffentlichen Buchlesungen vor:

Inhalt:

  1. Lesung ‚Aller Anfang ist schwer‘

Gedicht A. Kloß ‚Revolution auf ostdeutsch‘

  1. Lesung Ewa ‚Weggefährten (1)‘

Gedicht Helene Paetz ‚Trag dein Leid‘

  1. Lesung Körner ‚Sittenstrolch‘
  2. Lesung Balladu ‚Kreis‘ (oder Altersheim)

Gedicht Kloß ‚Schweigen‘ (oder Schubert Herbstlied) 

Es können auch Bücher von Balladu erworben werden.

 

 

 

Was mir wichtig ist.

Nicht nur am 1. Mai 2019

  1. Löhne rauf in ganz Europa.

Armutsfeste Mindestlöhne müssen Pflicht werden. In Deutschland sind das 12 Euro pro Stunde. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort statt Billigkonkurrenz!

  1. Tarifverträge stärken.

Öffentliche Aufträge dürfen nur noch an Betriebe gehen, die Tarifbindung haben und regional und fair wirtschaften. Tarifverträge müssen auf Antrag der Gewerkschaft allgemeinverbindlich werden.

  1. Mehr Zeit zum Leben. Gleicher Lohn.

Statt Überstunden und Dauerstress für die einen und unfreiwillige Teilzeit für die anderen: Jeder und Jede hat das Recht auf mindestens 22 Wochenstunden. Arbeitszeitverkürzung bei gleichem Lohn auf um die 30 Stunden.

  1. Konzerne müssen an die Kette.

Wir wollen Mindeststeuern für Unternehmen und große Vermögen, damit die Steueroasen in Europa geschlossen werden.

  1. Macht Europa sozial:

Dazu braucht der Kontinent ein Alarmsystem gegen Erwerbslosigkeit und prekäre Beschäftigung. Mindesteinkommen und Mindestrente müssen vor Armut schützen. Die Unternehmen und Reichen müssen ihren gerechten Beitrag leisten.

 

Drei Dinge…

 

Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen:

Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus.

Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig.

Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent.

Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi.

Kapitalismus braucht keine Demokratie!

13 Thesen gegen die Ausplünderung der Gesellschaft

von Ingo Schulze, Schriftsteller
veröffentlicht am 12. Januar 2012 in Süddeutsche Zeitung
  1. Von einem Angriff auf die Demokratie zu sprechen, ist euphemistisch. Eine Situation, in der es der Minderheit einer Minderheit gestattet wird, es also legal ist, das Gemeinwohl der eigenen Bereicherung wegen schwer zu schädigen, ist postdemokratisch. Schuld ist das Gemeinwesen selbst, weil es sich nicht gegen seine Ausplünderung schützt, weil es nicht in der Lage ist, Vertreter zu wählen, die seine Interessen wahrnehmen.
  2. Jeden Tag ist zu hören, die Regierungen müssten „die Märkte beruhigen“ und „das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen“. Mit Märkten sind vor allem die Börsen und Finanzmärkte gemeint, damit also jene Akteure, die im eigenen Interesse oder im Auftrag anderer spekulieren, um möglichst viel Gewinn zu machen. Sind das nicht jene, die das Gemeinwesen um unvorstellbare Milliarden erleichtert haben? Um deren Vertrauen sollen unsere obersten Volksvertreter ringen?
  3. Wir empören uns zu Recht über Wladimir Putins Begriff der „gelenkten Demokratie“. Warum musste Angela Merkel nicht zurücktreten, als sie von „marktkonformer Demokratie“ sprach?
  4. Der Kapitalismus braucht keine Demokratie, sondern stabile Verhältnisse. Dass funktionierende demokratische Strukturen eher als Gegenkraft und Bremse des Kapitalismus wirken können und so auch wahrgenommen werden, machten die Reaktionen auf die angekündigte Volksabstimmung in Griechenland und deren baldige Rücknahme deutlich.
  5. Spätestens mit der Finanzkrise des Jahres 2008 glaubte ich, dass unser Gemeinwesen so viel Selbsterhaltungstrieb besitzt, dass es sich wirkungsvoll schützt. Das war nicht nur ein Irrtum. Diese Hoffnung hat sich in ihr Gegenteil verkehrt.
  6. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks gelangten einige Ideologien zu einer Hegemonie, die so unangefochten war, dass man sie schon als Selbstverständlichkeit empfand. Ein Beispiel wäre die Privatisierung. Privatisierung wurde als etwas uneingeschränkt Positives angesehen. Alles, was nicht privatisiert wurde, was im Besitz des Gemeinwesens blieb und keinem privaten Gewinnstreben unterworfen wurde, galt als ineffektiv und kundenunfreundlich. So entstand eine öffentliche Atmosphäre, die über kurz oder lang zur Selbstentmachtung des Gemeinwesens führen musste.
  7. Eine weitere, zu enormer Blüte gelangte Ideologie, ist jene des Wachstums: „Ohne Wachstum ist alles nichts“, hatte die Kanzlerin schon vor Jahren dekretiert. Ohne über diese beiden Ideologien zu reden, kann man auch nicht über die Euro-Krise reden.
  8. Die Sprache der Politiker, die uns vertreten sollten, ist gar nicht mehr in der Lage, die Wirklichkeit zu erfassen (Ähnliches habe ich bereits in der DDR erlebt). Es ist eine Sprache der Selbstgewissheit, die sich an keinem Gegenüber mehr überprüft und relativiert. Die Politik ist zu einem Vehikel verkommen, zu einem Blasebalg, um Wachstum anzufachen. Alles Heil wird vom Wachstum erwartet, alles Handeln wird diesem Ziel untergeordnet. Der Bürger wird auf den Verbraucher reduziert. Wachstum an sich bedeutet gar nichts. Das gesellschaftliche Ideal wäre der Playboy, der in möglichst kurzer Zeit möglichst viel verbraucht. Ein Krieg würde einen gewaltigen Wachstumsschub bewirken.
  9. Die einfachen Fragen: „Wem nutzt das?“, „Wer verdient daran?“ sind unfein geworden. Sitzen wir nicht alle im selben Boot? Haben wir nicht alle dieselben Interessen? Wer daran zweifelt, ist ein Klassenkämpfer. Die soziale und ökonomische Polarisation der Gesellschaft fand statt unter lautstarken Beschwörungen, dass wir alle die gleichen Interessen hätten. Es genügt ein Gang durch Berlin. In den besseren Vierteln sind die wenigen unsanierten Häuser in aller Regel Schulen, Kindergärten, Altersheime, Ämter, Schwimmbäder oder Krankenhäuser. In den sogenannten Problembezirken fallen die unsanierten öffentlichen Gebäude weniger auf, dort erkennt man die Armut an den Zahnlücken. Heute heißt es demagogisch: Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt, jeder ist doch gierig.
  10. Unser Gemeinwesen wurde und wird von den demokratisch gewählten Volksvertretern systematisch gegen die Wand gefahren, in dem es seiner Einnahmen beraubt wird. Der Spitzensteuersatz wurde in Deutschland von der Schröder-Regierung von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt, die Unternehmensteuersätze (die Gewerbesteuer und die Körperschaftsteuer) wurden zwischen 1997 und 2009 fast halbiert, nämlich von 57,5 Prozent auf 29,4 Prozent. Niemand sollte sich darüber wundern, dass die Kassen leer sind, obwohl sich doch unser Bruttoinlandsprodukt Jahr um Jahr erhöht.
  11. Das Geld, das man den einen gibt, fehlt den anderen. Das Geld, das den Vermögenden dadurch bleibt, ist – glaubt man den Statistiken – nicht wie gewünscht in Investitionen geflossen, sondern in lukrativere Finanzmarktgeschäfte. Andererseits werden sozialstaatliche Leistungen überall in Europa abgeschafft, um den Banken, die sich verspekuliert haben, Rettungspakete auszuhändigen. Die „legitimatorischen Ressourcen der sozialen Demokratie werden (…) in dieser stupenden Umverteilung zu Gunsten der Reichen aufgezehrt“ (Elmar Altvater, 2011).
  12. Eine Geschichte: Was uns einst als Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschland verkauft wurde, wird uns jetzt als ein Gegensatz zwischen Ländern dargestellt. Im März stellte ich in Porto in Portugal ein übersetztes Buch von mir vor. Eine Frage aus dem Publikum ließ die gesamte freundlich-interessierte Atmosphäre von einem Moment auf den anderen kippen. Plötzlich waren wir nur noch Deutsche und Portugiesen, die sich feindlich gegenübersaßen. Die Frage war unschön – ob wir, gemeint war ich, ein Deutscher, nicht jetzt mit dem Euro das schafften, was wir damals mit unseren Panzern nicht geschafft hätten. Niemand aus dem Publikum widersprach. Und ich reagierte – schlimm genug – plötzlich wie gewünscht, nämlich als Deutscher: Es werde ja niemand gezwungen, einen Mercedes zu kaufen, sagte ich beleidigt, und sie sollten froh sein, wenn sie Kredite bekämen, die billiger wären als Privatkredite. Ich hörte förmlich das Zeitungspapier zwischen meinen Lippen rascheln.

In dem Getöse, das meiner Entgegnung folgte, kam ich endlich zu Verstand. Und da ich das Mikrofon in der Hand hatte, stammelte ich in meinem unvollkommenen Englisch, dass ich genau so dämlich wie sie reagiert hätte, dass wir allesamt in dieselbe Falle gingen, wenn wir als Portugiesen und Deutsche wie beim Fußballspiel reflexartig Partei ergriffen für die eigenen Farben. Als ginge es jetzt um Deutsche und Portugiesen und nicht um oben und unten, also um jene, die in Portugal wie in Deutschland diese Situation herbeigeführt und an ihr verdient hätten und nun weiter verdienten?

  1. Demokratie wäre, wenn die Politik durch Steuern, Gesetze und Kontrollen in die bestehende Wirtschaftsstruktur eingriffe und die Akteure an den Märkten, vor allem an den Finanzmärkten, in Bahnen zwänge, die mit den Interessen des Gemeinwesens vereinbar sind. Es geht um die einfachen Fragen: Wem nutzt es? Wer verdient daran? Ist das gut für unser Gemeinwesen? Letztlich wäre es die Frage: Was wollen wir für eine Gesellschaft? Das wäre für mich Demokratie.

 

An dieser Stelle breche ich ab. Ich würde Ihnen noch gern von den anderen erzählen, von einem Professor, der sagte, er stehe wieder auf den Positionen, mit denen er als Fünfzehnjähriger die Welt gesehen hat, von einer Studie der ETH Zürich, die die Verflechtungen der Konzerne untersucht hat und auf eine Zahl von 147 kam, 147 Konzerne, die die Welt aufgeteilt haben, die fünfzig mächtigsten davon Banken und Versicherer (mit Ausnahme einer Erdölgesellschaft), ich würde noch gern erzählen, dass es darauf ankommt, sich selbst wieder ernst zu nehmen und Gleichgesinnte zu finden, weil man eine andere Sprache nicht allein sprechen kann. Und davon, dass ich wieder Lust bekam, den Mund aufzumachen.

 

Der Autor, 1962 in Dresden geboren, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ (S. Fischer Verlage, 2017).

Was ist die Wahrheit über die DDR?

Wahrheit aus der Sicht des Einzelnen ist immer subjektiv.

Was ist die Wahrheit über die DDR?

 

Die DDR wird in der BRD einseitig von den wichtigsten Medien verteufelt. Ein Beispiel aus der letzten Zeit ist der Umgang mit Täve Schur, einem Sportidol für uns Ostdeutsche vor und nach der Wende. Er wurde nicht in Hall of Fame aufgenommen, weil er der BRD-Propaganda die Stirn gezeigt hat. Ich habe mir mal kurz die Liste der Aufgenommenen angesehen. – Na ja!

Wer etwas über die andere Seite der Wahrheit wissen möchte, kann, neben vielen anderen Möglichkeiten, auch nachfolgende Bemerkungen zu zwei Lebensbeschreibungen von bekannten Persönlichkeiten aus diesem Land  lesen.

Das sind die Autobiografien: Walter Janka*): Spuren eines Lebens und Wolfgang Harich**): Ahnenpaß – Versuch einer Autobiografie

 

Inhalt:

Walter Janka:

Das oberste Gericht der DDR verurteilte Janka am 26. Juli 1957 wegen Boykotthetze und als unmittelbarer Hintermann und Teilnehmer einer konterrevolutionären Gruppe zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaft (Verhaftung am 6. Dezember 1956, und am 23. Dezember 1960 auf Grund internationaler Proteste vorzeitige Haftentlassung). Janka hat die Anklage nicht anerkannt und auf unschuldig plädiert.

 

Wolfgang Harich:

Das oberste Gericht der DDR verurteilte Harich im März 1957 wegen Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe zu zehn Jahren Zuchthaus. (Verhaftung am 29. November 1956, und Ende 1964 durch eine Amnestie vorzeitige Haftentlassung). Harich hat ein umfassendes Geständnis abgelegt.

 

Zu den Büchern:

Beide Biografien existieren unabhängig voneinander und sind doch eng miteinander verknüpft, bis zu den Gerichtsverhandlungen freundschaftlich, danach feindlich.

Jankas Buch, Spuren eines Lebens, ist übersichtlich systematisiert, chronologisch, enthält klare Aussagen in gut verständlichem Erzählstil, und ist damit für jedermann gut zu lesen. Die Schilderungen der einzelnen Lebensstationen klingen sachlich-ehrlich, dadurch glaubwürdig und überzeugend. Es entstand für mich in keiner Phase des Lesens der Eindruck, dass Janka irgendjemanden im Zusammenhang mit der Gerichtsverhandlung zu Unrecht beschuldigt hat. Aus seiner Sicht schreibt er die Wahrheit.

 

Harichs Ahnenpaß – Versuch einer Autobiografie, ist genau das Gegenteil: Unübersichtlich, ohne erkennbare Systematik, der Autor springt zwischen den unterschiedlichsten Zeiten hin und her, die meisten Aussagen zu konkreten Situationen sind verschwommen. Trotzdem ist das Buch auf ganz andere Art und Weise sehr interessant und gut lesbar. Der Charakter des Autors ist in der Biografie gut zu erkennen, teilweise vermutlich von ihm beabsichtigt, aber andererseits vielleicht auch wieder nicht. So kann ich auch für dieses Buch sagen, dass Harich aus seiner Sicht die Wahrheit schreibt, auch wenn der Leser das Geschriebene etwas anders interpretieren mag, als der Autor selbst.

Die teilweise völlig andere Sicht der Dinge ist interessant und unleugbar ist der Verfasser Harich ein hoch intelligenter Mann, der absolut auf der Höhe der aktuellen Philosophie, aber nicht immer auf der des Alltagslebens stand.

Und doch gehören gerade diese zwei Bücher zusammen, nicht unbedingt wie Kain und Abel, eher vielleicht wie Faust und Mephisto oder, einfacher ausgedrückt, wie erst gleichgesinnter Freund und dann entzweiter Gegner.

Der Beweis der Zusammengehörigkeit für mich ist, dass beide ähnliche politische Ausgangspunkte im Leben haben und auch nach der Wende ihren linken politischen Auffassungen treu geblieben sind.

Wir alle wissen, dass es mit der Wahrheit so eine schwierige Sache ist, denn objektiv sieht der einzelne Mensch die Realität um sich herum anders, als sein Partner, sein Freund, der Nachbar oder gar der Chronist.

 

Bereits im 16.-17. Jahrhundert rieten die Philosophen (z. B. Descartes):

De omnibus dubitare – An allem ist zu zweifeln.

Und daraus folgt:

Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich.

Diese beiden Sprüche haben sich mir eingeprägt, denn sie helfen die Aussagen auch in der heutigen Zeit nicht nur anzuzweifeln, sondern auch durch selbständiges Denken zu überprüfen um vielleicht zu Wahrheit zu finden?

 

*) Walter Janka (1914-1994), international bekannter Dramaturg der DEFA und Geschäftsführer im Aufbauverlag der DDR

 

**) Wolfgang Harich (1923-1995), bekannter Journalist und Philosoph (Professor an der Berliner Universität) in der DDR, vor seiner Verhaftung Cheflektor bei Janka im Aufbauverlag.

 

Der – aufhaltsame – Aufstieg des alternativen Faschismus in Deutschland

Kürzlich las ich den Krimi ‚Lunapark‘ von Volker Kutscher. Der Autor hat interessanter Weise diese Geschichte ins Jahr 1934 verlegt, also kurz nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland. Beim Lesen drängte sich mir der Gedanke auf: Vielleicht steht uns mit der neuen rechten Massenbewegung der AfD ein neues 1933 bevor?

Es ist doch bedrückend, wenn man sich diese Ereignisse in die Gegenwart hineindenkt, wie die Menschen sich winden, sich beugen müssen, um nicht Opfer des Systems zu werden. Und das bereits sofort mit Beginn der Machtübernahme! Man kann sich vorstellen, wie das 1934 weitergegangen ist. Die kritischen, aufrechten Menschen, die sich nicht beugen wollten, wurden entweder eingesperrt, gefoltert, getötet oder gebrochen und zu Angepassten, Mitläufern oder gar Karrieristen gemacht.

Man denkt automatisch darüber nach, wie es wohl aussehen könnte, wenn die AfD ans Ruder kommen würde. Und das könnte vor allen Dingen auch deshalb klappen, weil es ja keine Kommunisten, im weitesten Sinne, mehr gibt und damit deren stärkster Gegner fehlt.

Der Kapitalismus hat mit hervorragender Hilfe der, sich selbst überschätzenden, Personenkult liebenden, kommunistischen Führer, ihren einzigen Gegner beseitigt oder doch zumindest so weit zersplittert, dass eine echte Gefahr von links, also der Seite, die die Ausbeutung abschaffen will, für die reichen Lenker der Politik, nicht mehr droht. Diese superreichen Strippenzieher hinter den Kulissen werden von den meisten Medien als Idole, Superstars oder schlechthin als Vorbilder dargestellt, auch wenn sie eigentlich Verbrecher sind. Die Journalisten nehmen dabei billigend in Kauf, dass sich dadurch eine faschistische Bewegung viel schneller wieder breitmachen und dann sogar die politische Macht übernehmen kann.

Deutschland steht politisch am rechten Rand, auch wenn fast alle – Politiker, Medien, Parteien (abgesehen von der Linken) – das Gegenteil behaupten.

Und doch ist dieser Aufstieg des Faschismus aufhaltbar, wenn sich die gewöhnlichen Menschen gegen diese Gefahr verbünden könnten.

Dann müsste auch der sinnvolle Slogan:

Nie wieder Krieg!

kein Traum bleiben.

Aus heutiger Sicht auf gerade den 2. Weltkrieg zurückzublicken ist notwendiger denn je, weil die, die sich in der Gegenwart öffentlich wirksam äußern können, den Eindruck vermitteln, dass Kriege nach wie vor notwendig und unvermeidbar sind. Eine derartige Auffassung ist doch nur für die übermächtigen Unternehmen gewinnbringend, während alle anderen Menschen darunter leiden müssen. Jedes einzelne Kriegsopfer ist eins zu viel, denn hinter jedem steht ein Schicksal.

Warum, fragt man sich, glauben dennoch viele Menschen den irreführenden, verlogenen, falschen Ideologien der Besitzenden? Wohl auch, weil skrupellos vermarktete Bestseller falsche Denkweisen vermitteln und die Köpfe der Menschen mit niveaulosen Inhalt verstopfen. Gewissen und Verantwortung für das Leben der Menschen werden bedenkenlos durch die Gier nach Profit ersetzt.

Mensch 08-15 Ein Gedicht.

Nur in den Bergen liegt Schnee.

Hunger tut nicht sehr weh.

Indira stirbt, sie ist erst zehn,

Einzige Tochter vom Mensch 08-fünfzehn.

 

Freiheit – kommt mit roher Gewalt.

Die Frau wird getötet von fremder Gestalt.

Machtlos muss der Mann es seh’n.

Aus ist’s mit dem Mensch 08-fünfzehn.

 

Ab jetzt lässt er es krachen.

Sperrt weit auf seinen Rachen.

Verschluckt Häuser und noch wen?

Na wieder den Mensch 08-fünfzehn.

 

Erschauern und Beben.

Tränen für jedes Leben.

Auch die Zeitung riskiert deren zehn.

Und schreibt schnell wieder 08-fünfzehn.

 

Anderen passt das vorzüglich.

Das ist Grund nun genüglich.

Jetzt sollte es doch einfach geh’n

Zu verführ’n den Mensch 08-fünfzehn.

 

Die Presse ruft nach Rache.

Ist das alles nur Mache?

Wir wollen Köpfe rollen seh’n!

Schreit auch der Mensch 08-fünfzehn.

 

Das Geld – befiehlt Krieg.

Er – verspricht schnellen Sieg.

Es – verliert nicht nur een Beehn –

Der Mensch 08-fünfzehn.

 

Sie geifern weiter über Recht und Freiheit

Und meinen doch nur ihre eigene Geilheit

Sich beim Geld hinten rein zu drehn.

Scheiß auf den Mensch 08-fünfzehn.

08-15 2004