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Fortsetzung Videolesung Buch 10 2. Band zu ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Videos zur Lesung ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Feb19

H. F. Moritz und Max Balladu

lesen aus dem 2. Band des Romans von Max Balladu:

‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Diese Videos finden Sie über den Link: https://www.youtube.com/watch?v=r_v5RW8OONQ

und https://www.youtube.com/watch?v=7-Jxm3DsanI

Weitere Videos über Bücher von Max Balladu finden Sie auf YouTube über den Link: https://www.youtube.com/results?search_query=max+balladu

Buch 10: ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Hallo liebe Lesefreunde!

 Das 10. Buch von Max Balladu ist ein Roman in zwei Bänden, die in je zwei Teile aufgegliedert sind. Der Titel lautet: 

‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Band 1

 

 

Band 2

Buchlesungen finden im Januar statt.

Beide Bände sind im Online-Buchhandel verfügbar.

Preise:

Band 1    19,99 €

Band 2   15,99 €

Textaufgabe

Auszug aus Balladus neuem Roman ‚Tote brauchen keinen Himmel‘ (geplante Veröffentlichung Dezember 2022)

Mathestunde 2, Mittwoch, 28. September 2016

Frau Tusch schaltete den Beamer ein, dann befestigte sie mit einer Reißzwecke ein A4-Foto am oberen Tafelrand. Auf beiden Bildern sah man den Teil einer Destillation mit mehreren Kolonnen.

„Ihr erinnert Euch?“

Das große Bild vom Beamer an der Wand war für alle Schüler-innen gut zu sehen.

„Drei Kolonnen habe ich mit den Zahlen 1 bis 3 gekennzeichnet.“ Die Lehrerin schwieg einen Moment, um ihre Schüler zu beobachten. Deren Reaktionen schwankten zwischen mäßigem Interesse und Gleichgültigkeit. Sie wies erneut auf das Bild. „Die größte Kolonne, Nummer 1, hat eine uns unbekannte Höhe, sagen wir kurz h1, aber wir wissen, dass die Entfernung von unserem Standort bis zum Fuß dieser Kolonne 1, das wäre dann a1, derselbe ist wie zum mit Nummer 2, also a2, gekennzeichneten Apparat, dessen Höhe h2 43 Meter beträgt. Kolonne Nummer 3 ist zwanzig Meter kleiner als die Größte und von unserem Standort, 27 Meter entfernt. Das wäre dann a3. Wir besitzen ein Längenmessgerät und messen die Entfernung von uns bis zum jeweils höchsten Punkt der Kolonnen 1 gleich d1 und 2 gleich d2, mit 60 bzw. 54 Metern. Leider ist bei der 3. Messung der Akku leer.

Die Fragen lauten:

  1. Wie hoch ist die größte Kolonne 1?
  2. Wie groß ist der Abstand von uns bis zu Kolonne 1?
  3. Wie groß ist die Entfernung von unserem Standpunkt bis zur Spitze der Kolonne 3?“

Die Tusch wandte sich den drei Schülern an der Tafel zu. „Das Foto habe ich für Euch drei hier befestigt,“ sie zeigte mit der rechten Hand auf das Bild, „damit ihr es ein wenig leichter habt beim Überlegen.“ Sie trat zwei Schritte weiter von der Tafel weg, „Lukas, du rechnest auf der linken Seite der Tafel Aufgabe 2, Nina du in der Mitte Aufgabe 3 und Kevin Aufgabe 1 auf der rechten Seite. Alles verstanden?“

„Wieviel Zeit haben wir?“ fragte Nina.

„Betrachtet das als kleinen Wettkampf. Es geht um Gold, Silber und Bronze. Wenn der Silberplatz vergeben ist, hat Bronze noch 1 Minute.“

Sie wartete einige Sekunden, dann fügte sie hinzu, „ach ja, wer nicht fertig wird, erhält eine 6!“

Das löste wieder ein leichtes Murren der Mehrheit der Schüler aus.

„Sollen wir das Zahlenergebnis im Kopf ausrechnen?“ fragte Lukas etwas verwundert.

„Zahlenrechung natürlich mit eurem Rechner. Aber es genügt die Angabe von ganzen Zahlen, denkt daran, was der Ingenieur in der VC-Fabrik gesagt hat, über den Daumen gepeilt genügt, also plus-minus ein Meter, bitte.“

Sie hatte direkt zur Klasse gesprochen, drehte sich nun wieder den Drei an der Tafel zu. „Gebt Euch Mühe und los geht’s!“

Felix meldete sich. Er schnippte mit den Fingern der rechten Hand, damit sich die Lehrerin zu ihm umdrehte. „Frau Tusch, können sie sich noch an die Namen der Kolonnen erinnern?“

In dem Moment, als sich die Frau umdrehte, schrieb Nina an die Tafel:

????

Die Nitz löschte das Geschriebene, nachdem Aldo fertig war, sofort wieder aus. Was Nina nicht bemerkte, war, dass Kevin alles, auch lukas?, abgeschrieben hatte. Felix sprach plötzlich lauter mit der Tusch, Nina stutze, sah zu Kevin, schüttelte den Kopf und machte Kevin durch Zischeln auf seinen Fehler aufmerksam. Eilig wischte er das Wort weg.

Lukas sah schon auf sein Smartphone, dann schrieb er hinter die Gleichung:

???

Auf Ninas Tafelseite stand:

???

Dann sah sie zu Lukas, rechnete und schrieb ihr Ergebnis an die Tafel D3 = ?? m.

Währenddessen versuchte die Tusch Felix Frage zu beantworten. „Ja, – das heißt nein, – welches diese Kolonnen sind weiß ich nicht genau. Ich habe mir nur gemerkt, dass es Destillationskolonnen aus dem Prozess der…“

„Frau Tusch,“ unterbrach Kevin die Lehrerin, „mir fehlt der Wert von Lukas noch.“

Die Frau drehte sich um, sah erstaunt die Formel bei Kevin, die Ergebnisse bei den beiden anderen und sagte ungewollt derb, „na dann guck doch hin!“

Das tat Kevin schnell, holte sein Handy heraus, öffnete die App und – überlegte.

Felix meldete sich schnell zu Wort. „Ich weiß genau, dass die größte die VC-Kolonne ist.“

Die Lehrerin drehte sich nur kurz um zu Normu, aber das genügte, dass Nina schnell ?? schrieb und sofort weglöschte.

Als sich die Tusch umdrehte, schrieb Kevin hinter das Gleichheitszeichen seiner Rechnung ?? m und wandte sich der Lehrerin zu.

„Na gut. – Lukas Gold, Nina Silber, Kevin noch Bronze.“

Sie hatte kaum zu ende gesprochen, als es auch schon zur Pause klingelte.

Auf dem Schulhof wartete Kevin auf Nina, die zusammen mit Felix aus dem Schulgebäude kam. Er ging langsam auf sie zu, blieb vor ihr stehen und sah auf die kleine, zierliche Person herunter. „Ich kenn‘ dich überhaupt nicht und du hilfst mir? – Warum?“

„Die Tusch hat mich bei meiner Anmeldung hier am Gymnasium im September so …“ sie stockte, „…so sächlich behandelt, als wäre ich ein unnötiger Gegenstand, den ein anderer ihr aufschwatzen wollte. Wohlgemerkt, obwohl ich die Aufnahmeprüfung bestanden hatte.“

„Dann hast du mir nur geholfen, weil du die Tusch ärgern wolltest?“ Kevin sah Nina zweifelnd an.

„Na, was dachtest du denn?“ Das Mädchen grinste, „so ein toller Kerl bist du nun auch wieder nicht.“

„Ach so,“ Kevin schüttelte etwas enttäuscht den Kopf, „aber trotzdem danke.“

„Kevin, wir kennen uns ja schon länger“ mischte Felix sich in das Thema ein, „eigentlich müsstest du wissen, wie ich ticke. – Na egal. – Und obwohl mir deine Auffassungen nicht gefallen, vor allem, weil du immer weiter nach rechts rutschst. Aber, wenn ich sehe, dass ein Mensch ungerecht behandelt wird, dann versuche ich dem zu helfen. – Und mit ihr,“ er tippte kurz mit einer Hand auf Ninas Schultern, „kann man Pferde stehlen.“

„Bin kein Nazi,“ stieß Kevin ärgerlich hervor, fügte dann aber wieder ruhig hinzu, „kennst du … die … etwa schon länger?“

„Erstens, Kevin, ist Nina schon fast einen Monat in unserer Klasse und zweitens ja, wir sind befreundet, weil wir ähnlich ticken.“

„Wenn jemand ungerecht behandelt wird,“ fuhr Nina fort, „oder in Not geraten ist, dann helfen wir, Kevin,“ und lächelnd fügte sie noch hinzu, „das ist, wenn du so willst, eben unser Spleen.“

Wortlos drehte sich Kevin um und ging davon. Nina und Felix sahen ihm, jeder mit anderen Gedanken beschäftigt, hinterher.

Wer löst diese Aufgabe?

Die Lösung gibt es nächsten Sonntag, 13.11.2022

Der gerettete Retter

2. Auszug  aus Balladus neuem Buch ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Seeleben, Mittwoch 14. Februar 2007

Der fünfjährige Felix stopfte kleine Steine in seine Hosentaschen und wanderte langsam weiter in Richtung See. Auf dem letzten Stück bis zu der von ihm angesteuerten Uferstelle, fand er zwar keine mehr, aber seine Taschen waren ohnehin voll genug.

Der kleine, künstlich infolge des Kalisalzbergbaus in den Jahren vor 1925 entstandene, inzwischen durch die fleißig waschsenden natürlichen Gewächse idyllisch aussehende, fast rechteckige, circa dreißig Fußballfelder große See, war mit einer nur dünnen Eisfläche bedeckt, die so spiegelte, dass die Versuchung groß war, vor allen Dingen für die jüngeren Fußgänger, sich aufs Eis zu wagen. Felix konnte trotz seiner viereinhalb Jahre schon schwimmen, das hatte ihm im letzten Sommer ein fast sechs Jahre älterer Junge aus dem ganz in der Nähe befindlichen Heim, Horst Wichmann, den alle nur Hulk riefen, beigebracht. Doch der Junge kannte aber auch die Tücken einer zugefrorenen Wasseroberfläche. Er wusste, wenn der Waghalsige unter das Eis geraten würde, schwimmen nur wenig half, wenn man die Öffnung im Eis nicht wiederfinden konnte. Schlimmer noch, wenn derjenige dazu noch die Panik geriet. Felix war schon zweimal eingebrochen, hatte sich aber fast nur nasse Füße geholt. Nur einmal stand er bis zum Hintern im Wasser.

Heute wollte er nur ein paar der kleinen Steine über das Eis gleiten lassen, vielleicht schaffte er es ja bis auf die andere Seite, immerhin waren das etwa dreihundertfünfzig Meter.

Als Felix den zweiten Stein warf und verfolgte, glaubte er am Schilfrand rechts, irgendetwas gesehen zu haben. Er ging näher an die Eisfläche heran und jetzt konnte er es sehen. „Ein Hund!“ rief er laut, obwohl das gar keinen Sinn hatte, denn er war hier und da in einem kleinen Eisloch der Hund, allein. Felix dachte noch zwei Sekunden nach, dann betrat er langsam und sehr vorsichtig das Eis. Die dünne Schicht bog sich durch, aber schien doch so elastisch zu sein, dass sie ihn tatsächlich tragen könnte. Das ließ den Jungen Mut schöpfen und er glitt weiter vorsichtig über die glatte Fläche. Der Hund bemerkte ihn und jaulte wieder etwas lauter, fast hatte es sich bis dahin schon angehört, als ob ihn die Kräfte verließen. Zwei Meter vor dem Eisloch legte Felix sich bäuchlings auf das Eis und glitt bis an den Rand der Öffnung. Er griff dem Hund ins Fell, erwischte dabei auch die Haut, so dass das Tier noch etwas lauter heulte, aber darauf konnte Felix keine Rücksicht nehmen. Zum Glück war der Beagle nicht besonders schwer, so dass es gelang, ihn aufs Eis zu ziehen. Felix schob den Hund in Richtung Ufer, doch der versuchte sich dagegen zu wehren.

„Nun lauf schon. – Was ist nur mit dir? – Wo willst du hin?“

Felix sah wieder auf das Loch, bemerkte eine dunklere Stelle unter dem Eis und erschrak. Unter der durchsichtigen Schicht schien ein Mensch festzuhängen. Felix rutschte wieder näher, brach Stück für Stück das Eis weiter auf, bis es ihm gelang, nach dem Menschen zu greifen. Es war ein Kind, vielleicht so alt, wie er, ein Mädchen, das leblos, nun vom Eis befreit, auf dem Wasser schwamm, was wohl die Luftblase unter ihrem Anorak bewirkte. Erneut bemühte sich Felix den Körper auf die Eisfläche zu schieben, aber das Eis gab nach, bog sich immer weiter durch, wurde rissiger und plötzlich, ehe er etwas dagegen hätte tun könne, fand er sich mit dem leblosen Mädchen im eiskalten Wasser wieder.

Dem Hund schien es wieder besser zu gehen, denn er bellte laut, mit respektvollem Abstand zu dem Loch.

„Lauf Hund!“ rief Felix verzweifelt, „hol Hilfe! Hilfe!“ rief Felix so laut er konnte. Doch der Hund lief nur aufgeregt hin und her und bellte ununterbrochen.

Felix bemühte sich mitsamt dem Körper des Mädchens ans Ufer zu gelangen, aber das ging sehr schwer, denn er musste sich ja durchs Eis kämpfen. Schon bald merkte er, dass seine Kräfte nachließen, aber er kämpfte verbissen und ließ das Mädchen nicht los. Plötzlich krachte dem Jungen ein Stock auf den Kopf. Der Schreck war nur kurz, denn Felix sah das daran befestigte Seil, wickelte es sich schnell einmal um seinen Körper, dann auch noch um den des Mädchens, klemmte das Ende des Seils mit dem Stock zwischen seine Beine, fühlte den Ruck, als jemand am Strick zu ziehen begann und langsam kamen die beiden Menschlein dem Ufer immer näher, bis kräftige Arme erst das Mädchen, dann Felix an Land hievten.

Der Retter war Hulk. Jetzt spürte Felix, dass sein großer Freund zu Recht diesen Spitznamen besaß, denn er war nicht nur groß und stark, sondern fackelte auch nicht lange, wenn es galt Menschen in Not, und erst recht schwachen Menschen in Not zu helfen.

„Hol Hilfe Felix,“ befahl der Elfjährige und begann sofort mit der Wiederbelebung, wie er das vom Fernsehen her kannte.

Der resolute Befehlston half dem erschöpften Felix widererwarten auf die Beine. Er ging anfangs langsam und wackelig, dann immer sicherer auftretend und zum Schluss konnte er sogar rennen. Nach Luft japsend kam er vor dem Eingang zum Haus ‚Mischwaldland‘ an.

„Hilfe!“ rief Felix schon vor dem Haus.

„Hilfe!“ er stolperte die Treppen hinauf, griff zur Tür, aber er fasste ins Leere, denn eine knapp Siebzehnjährige hatte bereits die Tür aufgerissen, der Junge fiel ihr in die Arme.

„Hilfe – Horst – kleines Mädchen – unter dem Eis,“ stammelte Felix, seine Beine versagten ihren Dienst, aber die junge Frau war kräftig, nahm den Jungen auf die Arme und trug ihn in das Haus hinein.

Auf dem Flur kam ihnen ein noch junger, mittelgroßer Mann entgegen, „Timo ruf die Rettung. Am See ist Hulk und wohl ein ertrunkenes Mädchen.“

„Gib mir den Jungen, Sara und rufe du an. Wir kommen mit.“ Timo übernahm den zitternden Jungen, während Sara die Tür zum nahegelegenen Büro aufriss, die anderen zwei vorbeiließ, schnell hinterherging und zum Telefon griff.

Während Sara telefonierte, zog Timo dem Jungen die feuchten Sachen aus und begann ihn mit einem Handtuch abzureiben.

„Mach du hier jetzt weiter Sara,“ Timo drückte ihr das Handtuch in die Hand, nachdem sie den Hilferuf abgesetzt hatte, „ich laufe zum See und sehe, ob ich Hulk helfen kann.“

Und schon rannte er aus dem Haus.

Es dauerte eine Viertelstunde bis die Rettung am Unfallort eintraf, wo sich Timo und Hulk immer noch um das Mädchen bemühten.

Der Notarzt eilte zu dem am Boden liegenden Kind und die Sanitäter gingen mit einer Krankentrage hinterher.

Während der Arzt das Kind untersuchte standen Timo und Hulk mit traurigen Gesichtern daneben und warfen ab und zu unruhige Blicke zu dem kleinen, sehr blassen Mädchen.

Schon nach ein paar Minuten stand der Arzt wieder auf. „Bringt die Kleine in den Krankenwagen,“ wies er die Sanitäter an, wandte sich dann Timo und Hulk zu, „wie lange war sie unter Wasser?“

„Keine Ahnung,“ antwortete Hulk, „Felix hat sie unter dem Eis hervorgeholt. Ich habe die beiden ans Ufer gezogen und aus dem Wasser gehoben.“

„Es sieht nicht gut aus,“ sagte der Arzt mehr an den erwachsenen Mann gerichtet, wandte dann aber sein Gesicht auch Hulk zu, „aber wir werden uns im Krankenwagen weiter um die Kleine bemühen,“ er sah auf seine Uhr, „das kann dauern,“ drehte sich um und stieg ebenfalls in den Krankenwagen.

Es dauerte eine ganze Stunde, bis die Tür sich wieder öffnete und der Arzt heraustrat.

Neben Timo und Hulk standen jetzt noch mehr Kinder aus dem Heim und ein paar Anwohner aus der nahegelegenen Neubausiedlung. Alle sahen dem Arzt erwartungsvoll entgegen.

„Es tut mit leid,“ sagte der Mann mit müder Stimme, „aber das Mädchen war nicht mehr zu retten.“ Er wollte gleich wieder ins Auto steigen, drehte sich dann aber doch noch einmal um, „wir bringen sie noch in die Uniklinik, aber…“ er zögerte einen kurzen Moment, „…es gibt – keine Hoffnung mehr.“ Er drehte sich um, stieg in den Krankenwagen und das Fahrzeug fuhr mit dem Mädchen davon.

Stumm sahen die Menschen hinterher.

Plötzlich fasste sich Hulk an den Kopf, „Felix! Ich muss zu Felix,“ und er rannte sofort los.

Instinktiv rannte er ins Heim, obwohl er wusste, dass Felix nicht zum Heim gehörte, ging direkt zum zentralen Büro und stürzte ins Zimmer.

Felix lag auf der Liege, durch mehrere Decken gewärmt. Sara saß daneben auf einem Stuhl und hielt eine dampfende Tasse in der Hand. Hulk musste näher treten, um in das Gesicht seines Kumpels sehen zu können. „Wie geht es, Felix?“

Die Augen des Jungen richteten sich fragend auf Hulk, doch der schwieg.

„Er ist unterkühlt,“ antwortete Sara und sah von Felix zu Hulk, „was ist am See passiert?“

Der vom Laufen noch schwer atmende, aufgewühlte Junge stieß kaum verständlich hervor, „tot!“ und trotzdem verstanden die beiden sofort.

Felix begann lautlos zu weinen. Sara ergriff seine Hand, um ihn zu trösten, obwohl sie selbst auch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, drei etwa dreizehn- oder vierzehnjährige Jungen polterten ins Zimmer, sahen den weinenden Felix auf der Liege und die Händchen haltende Sara. „Was ist denn hier los!“ brüllte der Anführer der drei, „pfui Teufel, sind wir etwa bei den schwulen Schwestern …“

Weiter kam er nicht, weil ihn Hulk gepackt hatte. Der zwei Jahre jüngere, verpasste dem Anführer einen Hieb ins Gesicht, dass der rückwärts taumelte, gegen seine Kumpane stieß und alle drei wurden von Hulk energisch auf den Flur zurückgedrängt.

Sara war ebenfalls aufgesprungen, eilte zur Tür, schob Hulk, der den anderen inzwischen losgelassen hatte, ins Zimmer zurück, während sie bei den drei auf dem Flur blieb. Nachdem sie den Jungs erklärt hatte, was passiert war, zogen die sich schweigend in das Gebäude zurück.

Als Sara nur wenig später das Büro erneut betrat, blieb sie kurz hinter der Tür staunend stehen. Felix war aufgestanden und redete beruhigend auf seinen großen Freund ein, der mit gesenktem Kopf vor dem viel Kleineren stand.

„… nicht umsonst,“ hörte Sara die Worte des erfolglosen Retters, „ich werde trotzdem immer wieder dasselbe tun, Horst Wichmann, ich werde helfen, wenn jemand in Not ist. Helfen – einmal wird es auch gelingen.“

‚Ja das stimmt,‘ dachte der große Freund und nickte zustimmend.

Kaum jemand im Heim kannte seinen richtigen Namen, aber alle wussten, wer Hulk war.

Der elternlose Horst Wichmann war am 1. Mai 2003 ins Haus ‚Mischwaldland‘ gekommen. Sein Geburtsdatum war der 9. Februar 1996, obwohl es nicht hundertprozentig sicher schien.

Am 5. Mai 2003 erhielt das Heim, quasi als materielle Spende, alte Möbel, zu denen auch ein ziemlich großer Schrank gehörte. Die Transportleute wollten Zeit sparen, sie verzichteten darauf den Schrank in seine Einzelteile zu zerlegen und versuchten das Ungetüm als Ganzes, „der ist doch leer“, sagte der Vorarbeiter, zu transportieren. Das gelang ihnen auch bis zur Treppe, die in den Flur des Hauses führte. Dort kamen sie ins straucheln und plötzlich kippte der Schrank.

Der Vorarbeiter brüllte, „Vorsicht! Alles weg!“

Aber genau in diesem Augenblick kamen zwei vierjährige, ein Junge und ein Mädchen, aus dem Haus, der Schrank senkte sich über sie. Die Kinder schrien auf, duckten sich, warteten auf den Schlag, aber der Schrank hielt mitten im Fallen inne, wie durch Geisterhand gehalten. Der Geist war Horst, der hatten den Schrank auf die Kinder fallen sehen, war schnell hinzugetreten, streckte seine Arme hoch und das Ungetüm wurde nicht nur abgebremst, er konnte ihn sogar solange halten, bis es den Kindern gelang unversehrt zu entkommen. Langsam senkte sich der Schrank weiter und von Horst war nichts mehr zu sehen. Doch plötzlich trat er hinter dem Schrank, dicht neben der Treppe, hervor und die wie gebannt wartenden Kinder und Erwachsenen schrien befreit auf, obwohl sie nicht begriffen, was da eben passiert war. Nur an dem hochroten Gesicht und seinem kräftigen, hörbaren Atmen, bei dem sich der Brustkorb ungeheuer spannte und wölbte, begriff einer nach dem anderen, dass Horst mit diesem Wunder zu tun haben musste.

„Hulk!“ stieß einer der älteren Jungs hervor und sie umkreisten staunend den Jungen.

Ab diesem Zeitpunkt hatte Horst seinen Spitznamen weg, aber das störte ihn gar nicht, denn der wurde von allen mit Achtung ausgesprochen.

Von da ab fühlte sich Horst Wichmann in seiner neuen ‚Familie‘ angekommen.

Felix Normu wurde einer seiner ersten Freunde, obwohl der fast sechs Jahre jünger war und gar nicht im Heim lebte. Dass Felix keinen Vater hatte, war der erste Grund für Hulk, sich dem Jungen verbunden zu fühlen und dann war da noch dessen optimistischer, ruhiger Charakter, der ihn zu überlegtem Handeln anhielt. Das gefiel Hulk, während manche der anderen Jungen dachten, der Normu sei eben eine Trantüte und langsam, wie eine lahme Ente. Sie erkannten nicht, dass Felix immer erst überlegte, bevor er handelte.

Am Nachmittag dieses düsteren Tages begleitete Horst seinen kleinen Freund nach Hause, der inzwischen wieder richtig warm und mit trockenen Sachen aus dem Heim ausgerüstet worden war.

Felix Mutter Claudia nahm die zwei traurigen Gestalten schweigend mit in die Wohnung, bat Horst auch noch zu bleiben und bereitere beiden einen warmen Tee mit viel Zitrone, den sie in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer servierte. Ohne Worte stellte sie einen Zuckernapf mit kleinem Löffel neben die Teekanne. Sie füllte beiden, dann auch sich selbst, ein großes Glas voll und forderte die Jungs durch eine Geste zum Trinken auf.

Felix Mutter Claudia, geborene Süß, war zur Wende 1989 achtzehn Jahre alt. 1990 beendete sie ihre Lehre als Verkäuferin, wurde aber vorerst Sekretärin im damaligen Kaliwerk in Teutschenthal, das der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Kali und Salze in Halle angeschlossen war.

Nach einigen Minuten oder vielleicht waren es auch nur Sekunden, keiner von den drei Personen hätte sagen können wieviel es genau waren, durchbrach Frau Normu die Stille. „Ich habe von Sara, also Frau Franke, gehört, was ihr beide gerade erlebt habt.“ Die Mutter verstummte wieder, dachte nach, sah die beiden an und fuhr fort, „deinen Namen Horst Wichmann…“, und etwas leiser fügte sie noch hinzu, „…Hulk, kannte ich ja schon von Felix, aber seit heute…“ wieder brach sie ab, starrte kurz an die Decke des Raumes, senkte langsam den Kopf wieder und sprach weiter, „…weiß ich, dass ich mit euch über die Wahrheit sprechen kann, sprechen muss. Deshalb,“ sie sah wieder zu ihren zwei Zuhörern und sah gespannte Aufmerksamkeit in deren Augen, „will ich dir Felix, meinem Sohn, zusammen mit deinem Freund von der Wahrheit über meine Vergangenheit berichten.“

Die Frau atmete, den Blick zum Fenster gerichtet, mehrere Male tief ein und wieder aus.

„Am 1. Juni 1990 wurde mein Betrieb unter der Firmenbezeichnung KALIMAG GmbH eine eigenständige Kapitalgesellschaft. Alleiniger Gesellschafter war die Treuhandanstalt Berlin. Allerdings übernahm bereits am 1. Juni 1992 die Grube Teutschenthal Sicherungsgesellschaft mbH GTS das Werk samt den angrenzenden Grubenfeldern Salzmünde und Angersdorf. Bereits in den ersten Monaten lernte ich dort meinen fünf Jahre älteren Mann Peter Normu kennen, der bereits vier Jahre in der Grube als Bergarbeiter beschäftigt war. Der mittelgroße, schlanke, temperamentvolle und sportliche Normu war überdurchschnittlich intelligent, aber von Schulunterricht hielt er nicht viel, deshalb trachte er beizeiten danach, Geld zu verdienen. Er absolvierte die erste beste Lehre, die ihm angeboten wurde und das war die Ausbildung zum Chemiefacharbeiter in Luna. Danach fing er sofort als Bergarbeiter im Kaliwerk in Teutschenthal an. Ich wusste damals nicht, dass seine Arbeit im Schacht noch eine tiefere Bedeutung hatte. Davon erzählte er mir erst viel später. 1996 heirateten wir, nicht nur, weil ein Kind unterwegs war, denn ich ergänzte mich hervorragend mit diesem Mann, jeder achtete den anderen, wir ließen uns gegenseitig genug persönlichen Spielraum und auch die sexuelle Liebe stimmte.“ Die Mutter sah mit fragendem Blick zu ihrem Sohn, dann weiter zu Horst und wusste, dass sie noch ein paar erklärende Worte hinzufügen musste.

„Eine Frau kann nur dann ein Kind zur Welt bringen, wenn sie die Spermien, also die Samen eines Mannes, die nur er in der Lage ist zu produzieren, in sich aufnimmt. Dazu hat der Mann ein Glied und die Frau eine Scheide zwischen den Beinen und wenn die beiden sich lieb haben, dann vereinigen sie sich und der Samen fließt vom Mann in die Frau. Dieser Vorgang kann den Menschen auch große Freude bereiten, wenn sich Frau und Mann richtig gern haben, und ja, das funktioniert auch nur so zum Spaß, zur Freude dieser zwei Menschen, ohne dass immer ein Kind entstehen muss. Versteht ihr das?“

Sie sah beide nicken, war sich aber nicht ganz sicher, ob die Jungs das alles verstanden hatten. Dennoch fuhr sie fort, „Anfang 1996 wurde ich schwanger, das heißt, der Samen deines Vaters Felix, fing an in mir zu einem kleinen Wesen heranzuwachsen. Wir freuten uns auf unser Kind und waren also rundherum glücklich. In diesen wunderbaren Monaten verriet mir Peter sein Geheimnis, über das ich euch zu einem späteren Zeitpunkt noch berichten werde. –

Dann kam der 11. September 1996.

Erdgasausfall

 1. Auszug aus Balladus neuem Roman ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

V-Fabrik, Mittwoch, 23. Januar 2017

„Haben die Yankees doch tatsächlich diese Pappfigur Trump zum Präsidenten gewählt“, schnaufte Hossa, „ich fasse es immer noch nicht!“ Er warf seinen Helm polternd auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Während die anderen Operatoren gleichgültig blieben, erwiderte Balla in der für ihn typischen Art, „ne janz schön teure Pappfigur, millionenschwer“, Balla präsentierte soldatisch sein Plasterohr, „vielleicht liegt aber gerade darin eine – versteckte – Gefahr?“

„Du denkst an Nordkorea, Emil?“ fragte die Paulus.

„Vielleicht sogar schon bald,“ meldete sich Jonny Adler zu Wort, „hört mal, was ich gerade im Internet gefunden habe: ‚Die USA verlagerten vier ihrer insgesamt 19 Flugzeugträger ins Japanische Meer. 600 Marines wurden in Goseong in der Provinz Gangwon im Nordosten von Südkorea stationiert. Für die nächste Woche waren nördlich von Seoul Manöver der südkoreanischen Streitkräfte mit U. S. Army und U.S. Navy geplant. Die nordkoreanische Volksarmee konzentrierte einen Teil ihrer Landstreitkräfte südlich der Städte Kosong, Pyonggang, Chorwon, Kaesong und Yonan. Obwohl China angekündigt hatte sich aus dem Konflikt herauszuhalten, verlagerten auch sie zumindest einen Teil der gruppenunabhängigen Luftlandetruppen nach Yanbian in den grenznahen Bereich zu Nordkorea und Russland.‘ Ist das nicht der blanke Wahnsinn?“

„Ein Atomkrieg, Leute,“ Emil stöhnte theatralisch, „dann war es wohl nicht zu früh, dass ich mein Testament aufgesetzt habe.“

„Du bist ein Arsch Balla,“ schnaufte Günther Hossa, „was hast du alter Sack denn zu vererben?“

„Das Schlimme ist doch immer“, unterbrach die Paulus ärgerlich das Geplänkel zwischen den zwei Freunden, „diese Großkopferten Milliardäre befehlen den Krieg und lassen dann die anderen, die Kleinen die Dreckarbeit machen!“

„Und vor allen Dingen dürfen sie, die Kleinen, also wir, sterben,“ ergänzte Balla, „für die Reichen und künstlich Schönen, wie unser Doc – Marx hab ihn selig – immer gesagt hat, sie lassen…“

„Äh Leute!“, meldete sich lautstark die kleine Streller, „am Baueingang ist gerade das Signal Erdgasdruck ‚Tief‘…“

„Ich nehme die flüssigen Rückstände hoch“, sagte Adler sofort, weil er blitzschnell festgestellt hatte, das kein Fehlalarm vorlag, sondern der Druck tatsächlich abfiel. „Passt auf die Spaltung auf!“, fügte er noch schnell hinzu und konzentrierte sich dann ganz auf die Rückstandsverbrennung.

„Susanne du übernimmst Spaltung 1“, sagte die Paulus ruhig und bestimmt, „dann kann Tanja sich auf die Zweite konzentrieren. Ich informiere die Ingenieure.“

Die amtierende Schichtleiterin Eva Paulus rollte mit ihrem Arbeitssessel zum Telefon, doch bevor sie das Mobilteil aus der Basisstation herausnehmen konnte, klingelte der Apparat.

„Jetzt kommt bestimmt die Erklärung, Eva“, sagte Adler, während die Frau das Gespräch annahm.

Die Paulus lauschte, ohne etwas zu sagen, legte den Hörer wieder zurück und stand auf. „Es gibt einen Schaden an der Erdgasleitung zwischen Teutschenthal und unserem OPA-Werk. Wir stellen beide Spaltöfen ab. Du Jonny versuchst so lange, wie möglich, die Verbrennung in Gang zu halten.“

„Kein Problem“, sagte Adler, „ich helfe Tanja die V-Destille 2 in Gang zu halten.“

„Okay Jonny, mach das.“ Sie drehte sich um, „Emil, Günther …“

„Sind schon unterwegs“, kam Balla der Frau zuvor.

Hossa zeigte auf seinen Freund. „Du Spaltung1?“

„Aye, aye, Sir!“

Die beiden Männer verließen schnell den Kontrollraum.

Noch bevor sich die Tür wieder schloss, betraten Harry Kupfer und Michael Stolz die Messwarte und gingen mit fragendem Blick auf die Paulus zu.

„Ihr habt wirklich den siebten Sinn“, sagte die Frau lächelnd, „Erdgasversorgung ist ausgefallen. Wir stellen gerade die Anlage ab!“

„Quatsch siebter Sinn,“ brummte Klaeske und ging dichter an die Bildschirme heran.

„Die neue Technik, Eva,“ flüsterte Stolz erklärend der Paulus ins Ohr, „ich habe das auf meinem Laptop mitbekommen.“

Ohne weitere Worte ging Stolz weiter zu den Prozessleitstationen von Tanja, während Kupfer bereits Jonny über die Schulter schaute, um zu sehen, ob die Verbrennung noch lief. Stolz sah Tanja zu, wie sie gemeinsam mit Jonny, der nur noch ab und zu einen Blick zur Verbrennung warf, die V-Destillation 2, die nun in sich betrieben werden musste, wieder ins Gleichgewicht brachte.

„Ich wundere mich nicht, dass Stumpfberg in Rente gegangen ist, Harry“, sagte Stolz, „das läuft hier ja alles wie geschmiert.“

Der 35-jährige Michael Stolz war ein stattlicher Mann, groß, breitschultrig, mit kräftiger, athletischer Figur, lockeren, halblang geschnittenen, dunkel-braunen, leicht rötlichen Haaren. Das Barthaar wäre bei ihm rot geworden, aber von Barttragen hielt er ohnehin nichts. Stolz war in Mainz geboren worden, hatte dort auch die Schule bis zum Abitur besucht. Seine Wehrpflicht konnte er mit einer Längerverpflichtung bei der Marine absolvieren. Von 2007 an studierte er Verfahrenstechnik in München und ging nach erfolgreichem Abschluss zur Firma Boechst nach Knappsack in die dortige B-Anlage. Am 1.9.2014 wechselte er zu OPA Industrial nach Halle und wurde in der V-Fabrik Fachingenieur für den V-Teil der Anlage.

„Geschmiert“, murmelte Kupfer mürrisch und zeigte mit der rechten Hand in Richtung Ausgang, der zur Anlage führte, „geschmiert wurde da draußen bestimmt schon lange nichts mehr.“

„Apropos geschmiert“, Stolz lachte kurz auf, „habt ihr eigentlich schon Amado informiert?“

„Bin schon dabei“, antwortete die Paulus kopfschüttelnd, weil Kupfer wieder meckern musste, verkniff sich aber eine bissige Antwort, denn sie wartete bereits darauf, dass der Chef sich meldete. Außerdem hatte sie Stolz zynische Bemerkung, die heutzutage leider immer mehr zur Realität gehörte, wieder besänftigt.

Da Amado auch nichts weiter zu dem Erdgasausfall sagte oder fragte, schob sie ihren Stuhl neben den der Cremer, die sich mit Spaltung 1 und der V-Destillation 1 herumschlug und setzte sich. „Soll ich dir die HCl-Kolonne abnehmen?“

„Ja, danke.“

Die Frauen arbeiteten still nebeneinander, bis die Anlage auf die neuen Bedingungen eingestellt war.

Susanne Cremer war eine hübsche, gut proportionierte vollschlanke Frau, der es inzwischen keine Sorge mehr machte, dass man sie für zu dick halten könnte. Die 56 Jahre alte, immer noch sehr attraktive Frau, war erstaunlicher Weise nicht verheiratet, hatte aber eine inzwischen erwachsene Tochter. Ihr ruhiger und ausgeglichener Charakter machte sie noch sympathischer. Sie redete nur, wenn sie auch etwas zu sagen hatte. Der ehemalige Anlagenleiter Dr. Prost hatte sich immer gern mit ihr unterhalten. Sie konnte auch zuhören und so wurden es mit ihr auch tatsächlich Gespräche mit Rede und Gegenrede. Als sich nach der politischen Wende 1989 die Veränderungen in der Wirtschaft abzeichneten, hatte Prost ihr, auf ihre Frage hin, geraten, vom Labor auf die Anlage umzusatteln, also Operator zu werden. Das hatte sie mit Bravour getan und nicht bereut.

Die Paulus griff wieder zum Telefon, „ich will mich mal erkundigen, wie lange die ganze Sache dauert. Hoffentlich müssen wir nicht die gesamte Anlage abstellen.“ Während sie sprach wählte sie die entsprechende Nummer, hielt den Hörer ans Ohr und lauschte.

„Teutschenthal, gutes Timing, Eva. Gerade habe ich die Information bekommen. Das Leck haben sie gefunden. Wir stellen um auf die zweite Versorgungsleitung. Das wird etwa eine Stunde dauern. Okay für euch?“

„Wir wollen es hoffen, weil wir für die Rückstandsverbrennung immer Erdgas benötigen, denn ohne diesen Anlagenteil steht die gesamte V-Fabrik.“

„Das heißt also, dass ihr abgestellt habt?“

„Nein, noch nicht, vorerst nur die Spaltöfen. Wir versuchen mit der von Hand gesteuerten Verbrennung flüssiger Rückstände, die Anlage in Gang zu halten. Wenn uns das gelingt, bleiben die DC- und Oxi-Reaktoren weiter in Betrieb, bis der Feedtank voll ist.“

„Reicht dafür die Zeit?“

„Ja, das klappt. Ich habe gerade mal überschlagen.“

„Wunderbar. Ich melde mich, wenn wir fertig sind.“

„Warte, noch eine Frage, kommt dann bei der Inbetriebnahme der anderen Leitung zuerst nur Stickstoff?“

„Das dürfte kaum spürbar für euch sein, denn es wird alles gründlich mit Erdgas gespült.“

„Okay, hoffen wir das Beste. Und Tschüss.“

Die Paulus legte den Hörer wieder zurück aufs Telefon.

„In einer Stunde haben wir wieder Erdgas,“ sagte sie laut, damit alle Bescheid wussten und setze sich wieder neben Susanne.

Die Schichtleiterin Eva Paulus war nicht nur eine kluge Frau, die durch ihre ruhige und bestimmte, unaufdringlich wirkende, aber unmissverständliche Art auffiel, sondern auch mit ihren 62 Jahren immer noch eine attraktive Erscheinung. Ihre Intelligenz und Schlagfertigkeit sorgte für ein gutes Verhältnis sowohl zu Frauen wie zu den Männern.

Nach ein paar Minuten sagte die Paulus, „ich habe dich neulich mit dem Leiter unserer Nachbaranlage auf der Straße stehen sehen. Das soll doch ein Schotte sein. Kennst du den näher?“

„Kannst du dich noch an den tödlichen Unfall bei Plast erinnern Eva?“

„Ja, klar. Das ist doch erst vor ein paar Monaten passiert.“

„Im November, genau am Ersten.“

„Das weißt du so genau?“

„Na ja,“ sagte die Cremer zögerlich.

„Nun red‘ schon. Ich habe doch dein Gesicht da auf der Straße gesehen.“

„Genau an jenem Tag saß ich mit meiner Tochter…“

„Wie alt ist deine Tochter jetzt eigentlich schon, 25?“

„Sie ist 32…“

„Wow,“ seufzte erstaunt die Paulus.

„… ja, ja. Die Zeit vergeht rasend schnell.“

„Je älter man wird, umso schneller scheint die Zeit zu laufen,“ pflichtete die Paulus bei, „wenn man das an den Kindern misst, saust die Zeit nur so dahin und wir … egal, erzähl weiter. Du hast mit deiner Tochter wo gesessen?“

 

Merseburg, Dienstag 1.November 2016

Wir wollten im ‚Goldenen Hahn‘ zusammen Abendbrot essen. Gerade hatten wir bestellt, da kam ein mittelgroßer, schlanker Mann, der etwa in meinem Alter sein musste, ins Lokal. Mir kam der Mann bekannt vor und deshalb war ich wohl aufmerksamer und bemerkte, wie er mit dem Kellner redete, denn die Gaststube war ziemlich voll. Dennoch herrschte hier immer eine ruhige Stimmung, sicher wegen der gepfefferten Preise. Dafür lohnte es sich aber auch, hier zu speisen, denn die ausgezeichneten Küche sorgte für einen geschmacklichen Hochgenuss. Das war wohl überhaupt der Grund für den guten Besuch an fast jedem Abend. Nach ein paar Minuten kam der Kellner zu uns an den Tisch. „Bei Ihnen sind ja noch zwei Plätze frei, darf ich einen davon einem älteren Herrn anbieten?“

„Vielleicht haben sie ja auch noch einen Jüngeren – dazu?“ bemerkte meine Tochter grinsend.

„Selbstverständlich“ sagte ich schnell, sah entschuldigend zum Ober und dann kopfschüttelnd zu meiner Tochter.

Wortlos verschwand der Kellner und wenig später setzte sich der Mann, einen Gruß, den ich nicht verstehen konnte, vor sich hin brummelnd.

Nur wenig später brachte der Ober ein Bier und einen braunen Schnaps, vermutlich irgendeinen Weinbrand, in einem ziemlich großen Schwenker. Das wunderte mich. Ich sah mir den Mann, der keinerlei Notiz von uns nahm, genauer an und war mir schnell sicher, dass ich ihn von irgendwoher kannte.

„Das klang doch,“ begann Svenja flüsternd, „ich meine den Gruß unseres Tischangehörigen, vermutlich – englisch?“ und sah mich an.

‚Genau,‘ dachte ich, ‚das könnte dann vielleicht der Leiter der Plastanlage sein.‘ Und der, das glaubte ich zu wissen, war ja Engländer.

Der Ober kam sofort mit einem zweiten Schnaps, als er sah, dass sein Gast ausgetrunken hatte.

‚Oh je!‘ – Jetzt verstand ich das Verhalten. Heute Vormittag hatte es den tödlichen Unfall in der Nachbaranlage gegeben. Hatte er, der übergeordnete Verantwortliche, den schwerwiegenden Fehler zu verantworten? Doch auch wenn er nicht direkt Schuld hatte, sie wusste von ihrem alten Chef und Freund Thomas Prost, dass einen Betriebsleiter bei so gravierenden Vorkommnissen immer ein Teil der Schuld zufiel, ganz abgesehen von der moralischen Mitverantwortung. Auch uns in der V-Fabrik war ja zu Ohren gekommen, dass es ein subjektiver Fehler gewesen sein sollte, der zu dem tödlichen Unfall geführt hatte. Wollte der Mann seinen Kummer ersäufen?

„Was grübelst du Mutter?“ fragte meine Tochter. Doch ich wollte ihr nichts von der Geschichte sagen, zumindest jetzt und hier nicht.

„Gefällt dir der Mann oder kennst du Ihn?“ Ließ sie nicht locker.

‚Beides,‘ dachte ich und sagte, „ich sehe, dass er Kummer hat, ich würde ihn gerne ablenken. Aber ich weiß nicht wie?“

Meine Tochter sah mich verstehend, mit einem kleinen Lächeln an und sagte dann laut, „was meinst du, Mutter, ist das braune da in dem tollen Schwenker etwa Goldbrand?“

Für einen Moment sah es so aus, als hätte der Mann das verstanden, denn er sah kurz zu uns, aber sehr schnell senkte er den Blick wieder auf sein Glas. Er trank mit ziemlich finsterer Miene seinen Schnaps mit einem Ruck aus.

Der Ober brachte prompt den dritten Schnaps.

„Ich weiß nicht, Svenja, gab es Goldbrand nicht nur in der DDR und war das nicht eigentlich ein ziemlicher Fusel?“

„Ach was, Mutter, der schmeckte doch besser als Whisky.“

Plötzlich sah der Mann meine Tochter an, „gab es denn in der Sowjetzo…“ er brach ab, weil das Lächeln aus den Gesichtern der Frauen verschwand, „…sorry, der DDR auch Whisky?“

„Keine Ahnung,“ antwortete Svenja wieder lächelnd, „ich habe mit vier Jahren das Land verlassen, in dem ich geboren worden bin.“

Am Gesicht des Mannes wiederspiegelte sich ungläubiges Staunen, aber er schwieg. Ich hatte das Gefühl, keine Ahnung warum, dass dieses belanglose Gespräch den finster blickenden Mann, von seinen schwerwiegenden, bedrückenden Gedanken ablenken könnte. Deshalb versuchte ich den Satz meiner Tochter mit besonders freundlich klingender Stimme zu erklären. „1989 ging die Ära der DDR zu Ende und bereits 1990 gehörten wir alle zur BRD.“

„Amazing“, murmelte der Mann, „yeah – das hatte ich vergessen. Entschuldigen sie.“

„Wieso denn entschuldigen,“ platzte meine Tochter los, schwieg dann aber abrupt.

„So ein Unsinn,“ fügte ich hinzu, „man hört es doch an ihrer Aussprache, dass sie nicht von hier sind. Darf ich sie fragen woher sie kommen?“

„Ich lebe schon seit 2001 in Deutschland, aber den englischen Slang werde ich wohl nie ganz los.“ Er schwieg, dachte nach, trank einen Schluck Bier, ließ aber den Schnaps stehen.

„Entschuldigen sie, mein Name ist Finley MacAskill. Ich bin kein Engländer, ich bin Schotte.“

„Ich bin Susanne Cremer und das ist meine Tochter Svenja.“

„Deligthed,“ sagte der Schotte, sah mich an und fügte hinzu, „sie sehen sehr jung aus dafür, dass sie so eine große Tochter haben.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, sagte Svenja nachdenklich, „Schotte? – Dann ist das tatsächlich Whisky in dem schönen Glas?“

„Ein Smokehead 18 – Ardbeg. Wenn sie wollen, I would be pleased, wenn sie diesen Whisky mit mir zusammen trinken.“ Ein leichtes Lächeln flog über das Gesicht des Mannes, dass mich mehr beeindruckte, als ich mir eingestehen wollte.

„Sorry,“ fuhr Svenja fort, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht, offensichtlich hatte ihr das Lächeln des Mannes auch gefallen und vermutlich hat sie außerdem meine Empfindungen gespürt, „ich muss noch fahren, aber ich hätte schon gern einen gekostet.“

Svenja, drehte ihren Kopf zu mir, „aber du vielleicht, Mutter?“

„Nein, auf keinen Fall,“ sagte ich zu schnell, überlegte erst dann, ich wollte ja unbedingt, dass der Mann sich nicht aus Kummer besäuft, sah aber gleich, dass meine Absage die gerade erst aufflackernde Offenheit im Gesicht des Schotten sofort wieder verschwinden ließ. Also versuchte ich eine Wende, „na ja, der ist doch sicher zu stark – für mich.“

Ich sah, wie meine Tochter sich das Lachen verkniff, denn sie wusste schon, dass ich gerade harte Sachen liebte. „Probiere doch mal den Whisky, Mutter, soviel ich weiß wäre das ja Premiere für dich?“

„Das würde mich freuen, Frau Cremer. Ich kann ihnen auch versprechen, dass dieser Whisky,“ er hob sein Glas etwas in die Höhe, ließ die Flüssigkeit behutsam kreisen, „sehr weich im Geschmack ist, trotz der etwa 46 % Alkoholgehalt.“

‚Das ist ja eigentlich normal‘, dachte ich und antwortete laut, „okay, den würde ich dann doch gern probieren.“ Bevor der Mann mir antworten konnte, fragte ich schnell noch, „wie teuer ist dieser Whisky?“ und zeigte auf sein Glas.

„Das weiß ich gar nicht genau,“ er überlegte kurz, „aber ich lade sie selbstverständlich …“

„… verstehen sie mich, bitte,“ unterbrach ich ihn etwas zu hastig, „ich möchte mich…“  Ich atmetet noch einmal tief durch, um ruhiger sprechen zu können, „… auch revanchieren können.“

„Aber nein, das müssen sie nicht,“ er überlegte einen Moment, „aber wenn sie sich schon revanchieren wollen, das verstehe ich, dann mit einem Getränk, dass sie gerne trinken, okay?“

Ich dachte nach und dabei muss ich wohl eher eine abweisende Miene gezeigt haben, denn plötzlich erhielt ich einen Tritt gegen mein Schienbein. Ich sah zu meiner Tochter und die funkelte mich wild an, was ich auch ohne Worte verstand.

„Sie haben Recht Herr MacAskill …“

„Bitte sagen sie doch Finley zu mir oder, wie meine deutschen Freunde das tun, Finne.“

„Okay, mein Vorname ist Susanne. Also, ich trinke einen Whisky mit ihnen und dann trinken wir auf meine Kosten einen russischen Wodka ‚Stolitschnaja Elite‘.“

Tote brauchen keinen Himmel

Das 10. Buch von Max Balladu soll Ende 2021 oder Anfang 2022 veröffentlicht werden.

Darin erwartet die Leser:

Inhalt:

Der Roman erzählt in vier Teilen, ausgehend von drei voneinander unabhängigen Paaren, aus drei Generationen, deren Lebensgeschichten mit ihren mehr oder weniger auffälligen Verstrickungen mit Gegenwart und Vergangenheit. Der Leser lernt diese Menschen mit deren Freunden, Feinden und manchen kleinen und großen Sorgen und Freuden kennen.

  1. Zwei junge Menschen, Nina Nitz und Felix Normu, die beide im Jahr 2002 geboren wurden und zum ersten Mal in Seeleben aufeinandertreffen.
  2. Susanne Cremer, Mutter einer erwachsenen Tochter und der geschiedene Schotte, Vater zweier Söhne, Finley MacAskill, treffen in Merseburg aufeinander.
  3. Die dreißigjährige Medizinerin Dorothea Ruge und der fünf Jahre ältere Ingenieur Michael Stolz begegnen sich im Jahr 2017 in der Leporin-Klinik.
  4. Zum Ende des Romans kreuzen sich ihre Lebenswege.

Der historisch als Tarnung vor Schnüfflern entstandene und gewachsene Zwergkaninchenverein (ZKV) ‚Haase‘ e. V., bekannt aus den bereits veröffentlichten Büchern von Balladu, fungiert in diesem Roman durch seine Mitglieder als verbindendes Element in all den geschilderten historisch weit gesplitterten Vorgängen.

 

Demnächst werden in kurzen Zeitabständen Ausschnitte aus einzelnen Kapiteln des Romans hier veröffentlicht werden.

Weihnachten 2020 – Neujahr 2021

Weihnachtsgedicht international und doch nur für 4 Personen

Sohn:
Einmal war ich ein kleiner Zwerg am Heidesee.
Denken an die Schule tut mir nicht mehr weh.
Musste manchmal in der Ecke steh’n.
Was war da nur geschehn’n?

Alle Vergangenheit liegt nun im Süden,
In Form kleinerer oder größerer Etüden.
Manchmal fehlte mir der Berater.
Was sagst eigentlich du dazu, Vater?

Vater:
Oh Tannenbaum, du glaubst es kaum,
fast hätte ich dich auch verhau‘n.
Ach, lieber, guter Weihnachtsmann
Schau mich nicht so böse an, ich hab’s ja nicht getan.

Frau:
Als nacktes Weib am Heidesee
Fühlt‘ ich mich wohler als im Winter mit Schnee.
Tagsüber Arbeit, die Kinder danach und nachts der Mann.
Tat ich doch alles, was man als Frau nur tun kann.

Die Vergangenheit lebt weiter in Geschichten,
Die ich den Besuchern erzähle ohne zu dichten.
Manches ist dabei, was man vergessen kann.
Was sagst eigentlich du dazu, mein Mann?

Mann:
Oh Tannenbaum, du glaubst es kaum,
dich hätte ich manchmal auch gern verhau‘n.
Doch, lieber, guter Weihnachtsmann
Schau mich nicht so böse an, ich hab’s ja nicht getan.

Schwiegertochter:
Spielte mit Karen einst im Sand an der See.
Doch bald waren es Cello und Geige juchhe.
All mein Lernen begleitete die Musik.
Sie ist mir Muse und Motor mit tausend Kubik.

Die Vergangenheit liegt um mich herum.
Ich kann sie sehen, aber sie ist auch nicht stumm.
Es klingt in adagio, allegro und auch mal andant(e).
Was sagst eigentlich du dazu klog gammel mand*)?

Gammel mand:
Oh Tannenbaum, du glaubst es kaum,
dich wollte ich noch nie verhau‘n.
Warum lieber, guter Weihnachtsmann,
Schaust du mich trotzdem böse an? Ich hab es nicht getan.

Sohn:
Weggeblasen hab ich manche Sorgen.
Dachte dabei noch nicht an das Morgen.
Obwohl ich schon spürte den Hauch der Musik.
Auch bei meinem Dienst für die Republik.

Die Gegenwart liegt auf Inseln in der See,
Suchen, finden, verwerfen, wo ist die nächste Idee?
Habe jetzt einen anderen Berater.
Und doch, was sagst du dazu, Vater?

Vater:
Oh Tannenbaum, du grüner Baum.
Diesen Menschen kannst du vertrau‘n.
Der Weihnachtsmann aber ist noch bös.
Schwingt seine Rute weiter nervös.

Frau:
Nur noch geistige Schönheit, aber auch die manchmal nackt.
So geht`s auch meinem Partner und das ist der Pakt.
An der Wirklichkeit ist nicht zu rütteln.
Da kann man mit noch so vielen Worten dran schütteln.

Ein kleines Dorf umgibt die Gegenwart.
Idyllisch, ruhig, gar nicht Standard.
Manches ist dabei, was man vergessen kann.
Was sagst eigentlich du dazu, mein Mann?

Mann:
Oh Tannenbaum du grüner Baum.
Ganz so ähnlich war auch mein Traum.
Der Weihnachtsmann schaut immer noch bös.
Schwingt seine Rute weiter nervös.

Schwiegertochter:
Gezogen und geschoben, manchmal zupf ich die Seiten.
Mein Cello muss mich überallhin begleiten.
Die Welt scheint mir beim Musizieren fast klein.
Sie wird schier unendlich denk ich an den Liebsten mein.

Die Gegenwart spiegelt sich in der See.
Ein kleines Schiff, es dreht nach Luv und nach Lee.
Manchmal stringendo, ad libitum oder auch rallentand(o).
Was sagst eigentlich du dazu klog gammel mand?

Gammel mand:
Oh Tannenbaum du grüner Baum.
Eine so schöne Tochter, es ist wie ein Traum.
Warum Weihnachtsmann bist du noch bös?
Schwingst deine Rute weiter nervös?

Sohn:
Ich komponiere, programmiere und studiere.
Manchmal streck ich auch von mir alle Viere.
Oder ich greife mir Rasenmäher, Boot oder Trecker.
Nach vollbrachtem Werk schmeckt das Essen so lecker.

Die Zukunft sind Sterne am Himmelszelt.
Jeder seine eigene Botschaft enthält.
Wie diese aussieht weiß auch kein Berater.
Oder doch? Was sagst du dazu, Vater?

Vater:
Oh Tannenbaum, man glaubt es kaum.
Die Theorie bildet die Wurzeln, fest steht dann der Baum.
Weihnachtsmann deine Rute fürchtet er nicht.
Fuchtle du nur, er wahrt trotzdem sein Gesicht.

Frau:
Ich seh in den Spiegel, zum Glück ist er klein.
Er zeigt nur den Kopf, sieht nicht in mich hinein.
Was grau vor Alter ist, das ist ihm göttlich?
Hier irrst du dich Schiller, das klingt eher spöttlich.

Die Zukunft ist zeitlos, ich fühl mich befreit.
Die Kinder der Kinder und deren Kinder gestalten die Zeit.
Bald gehören wir zu dem, was man vergessen kann.
Oder, was sagst du dazu, mein Mann?

Mann:
Oh Tannenbaum, man glaubt es kaum.
Grau ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum.
Weihnachtsmann steck deine Rute ein.
Wir wollen und werden fröhlich sein.

Schwiegertochter:
Mein Cello singt mit den anderen im Chor.
Eigentlich hatte ich doch auch noch etwas anderes vor?
Was war das doch gleich, ich frage den Wind.
Der zaust meine Haare und flüstert ein … ind.

Am Horizont hinter dem Meer leuchtet der Zukunft Schein.
Davor das Land, ein Haus – frohe Geräusche rahmen es ein.
Sie klingen giocoso, sostenuto oder auch scherzand(o).
Was sagst du nun klog gammel mand?

Gammel mand:
Oh Tannenbaum, man glaubt es kaum.
Nur mit Theorie gibt es keinen nächsten Baum.
Weihnachtsmann hier brauchst du deine Rute nicht.
Du bekommst doch auch Reisbrei oder isst du den nicht?

*) kluger, alter Mann

Trotz aller Einschränkungen:

Frohe Weihnachten für jeden Menschen und ein besseres, gesundes und erfolgreiches Jahr 2021

Wie die Männer ticken.

Wie die Männer ticken.

Verfasst von Anni Kloß und Max Balladu

„Weißt du Max,“ wandte sich Amateurmalerin Henriette Fabienne Möller an ihren Mann Max Balladu den Amateurautor mehrerer Bücher, „die neue Mikrowelle verstehe ich nicht.“

„Zeig mir mal die Beschreibung Moritz.“

Die gut proportionierte, schön anzusehende Frau hörte diese Anrede, sie stammte noch aus der Zeit ihres Kennenlernens vor vielen Jahren, gern, denn sie wirkte auf sie sehr freundlich, fast liebevoll. Inzwischen nutzte sie diesen Namen in Verbindung mit ihren Initialen auch als Pseudonym ‚H. F. Moritz‘ für ihre Bilder, die zum Teil auf den Covern der Balladu-Bücher prangten und, zumindest ab und zu, für das Lektorat mancher Romane des Mannes. Das schon fortgeschrittene Lebensalter hatte der Möller – fast – nichts anhaben können. Sie drückte lächelnd dem beinahe gleichaltrigen, schlanken und immer noch sportlich wirkenden Mann, eine kleine A5 Broschüre in die Hand. Weiter still vor sich hinlächelnd sah sie zu, wie der Ingeniör i. R., wie er sich selber betitelte, zu lesen begann.

Genau damit fingen die Unterscheide zwischen den Beiden schon an. Während die Frau einfach drauflos probierte, das heißt in diesem Falle einen Knopf nach dem anderen drückte, immer von einem Piep begleitet, bis sie entnervt aufgab, weil das Gerät nun keinen Ton mehr von sich gab, machte der Mann sich immer erst geduldig über die Anleitung her und erst dann, wenn er glaubte das System erkannt zu haben, begann er damit die Knöpfe zu drücken.

Balladu betrachtete die 9 untereinander liegenden Fingerkuppen großen, sich kaum vom Untergrund abhebenden Druckknöpfe. Eigentlich waren das nur kleine Dellen in einer glatt-glänzenden Oberfläche. Er sah noch einmal kurz ins Buch, dann drückte er einen Knopf und die kleine, aber gut sichtbare digitale Anzeige, direkt oberhalb der Druckknöpfe, leuchtete auf und zeigte vier durch einen Doppelpunkt getrennte rote Nullen.

Eine Weile hatte die Frau noch geduldig daneben gestanden, doch dann wurde ihr das zu langweilig und sie verließ die Küche, um sich anderen Aufgaben zu widmen. Es hat ihr zwar auf der Zuge gelegen, dem Mann Ratschläge zu erteilen, aber dann hätte er sie ja doch nur kurz und knapp abgewiesen. Das war ihr schon so oft passiert und manchmal konnte das auch weh tun, obwohl sie genau wusste, dass es von ihm nie böse gemeint war. Im Prinzip hatte er wohl auch Recht, denn zu unterschiedlich waren ihrer beider Herangehensweisen. Natürlich wusste sie das längst, hielt sie aber oft nicht davon ab, es dennoch zu tun, sich einzumischen. Die zweite Abweisung des Mannes hörte sich dann auch entsprechend aggressiver an und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Da in dem kleinen Reihenhäuschen alle Räume, von Kellerflur bis in die erste Etage, gleichmäßig beheizt wurden, standen fast immer alle Türen offen. So hörte sie also, wie es plötzlich aus der Küche wieder piepte. Sie verharrte mit ihrer Arbeit, lauschte, doch es hörte nicht auf, unrhythmisch zu piepen. Langsam ging die Möller zurück in die Küche, sah ihren Mann jetzt kopfschüttelnd vor dem Gerät stehen, abwechselnd ins Buch und dann auf die Knöpfe der Mikrowelle sehend. Nach kurzer Zeit, die Frau stand jetzt direkt neben ihm, sah sie, dass auf der Anzeige irgendwelche Zahlen standen. Er drückte noch einen Knopf und nun zeigte die Anzeige wieder 00:00.

„Vielleicht solltest du zuerst die Zeit einstellen?“ schlug die Möller vor.

„Ich weiß zumindest, was die Knöpfe bedeuten. Siehst du hier,“ er zeigte auf den obersten Knopf direkt unterhalb der digitalen Anzeige, „damit stellt man die Leistung von P100-P10 ein. Darunter folgt die Auswahl der Garart, also Grillen, Mikrowelle oder Kombinationen. Dann folgt mit Convection,“ er zeigte auf den dritten Knopf von oben, „eine Temperatureinstellung. Was das genau bedeutet habe ich noch nicht verstanden. Es muss etwas mit vorwärmen auf eine bestimmte Temperatur zu tun haben. Der nächste Knopf dient der Einstellung des Gewichts des Gargutes. Mit dem Fünften, das scheint mir wieder wichtig, kann man Uhrzeit und  Kochzeit einstellen,“ er sah seine Frau kurz an, bevor er den Kopf drückte – piep. Die erste Zahl in der Anzeige blinkte. „Da,“ er sah auf die Uhr, „zehn Uhr dreißig,“ Balladu fuhr mit dem Finger über den direkt darunter liegenden Knopf hinweg, mit der Bemerkung, „Achtung! Der 6. Taster bedeutet ‚Stopp/Clear‘, meint somit auch löschen und dann muss du wieder von vorne anfangen. Also sollte ich jetzt auf den Siebenten drücken, der mit  einem Pfeil nach oben, leider kaum sichtbar, gekennzeichnet ist.“ Es piepte, die erste Zahl erhöhte sich mit jedem weiteren  Piep von 1 bis auf 10. Max drückte wieder auf den Fünften mit der Beschriftung ‚Clock‘, die erste Zahl blieb bei 10 stehen und die zweite begann zu blinken. Der Mann drückte erneut, jetzt aber dauerhaft auf den fast unsichtbaren Pfeilkopf nach oben, die Zahlen liefen schnell von Null über die dreißig hinweg. „Oh, 34, das war zu weit, aber kein Problem,“ er drückte den mit einem ebenso unsichtbaren Pfeilkopf nach unten gekennzeichneten Knopf, also den 8., nun wieder langsam, so dass nach vier Piepsern die 30 blinkte und er den Vorgang durch erneute Betätigung der fünften Taste abschloss. „Das ist einfach, aber Achtung vor der Taste Nr. 6! … doch lass uns erst einmal weitermachen,“ er zeigte auf den 9. und letzten Knopf, „da steht ‚Start/+30sec/confirm‘, klingt umständlich, aber es besagt wohl, dass damit sowohl der Kochvorgang gestartet als auch die anderen notwendigen Daten nach deren Eingabe, bestätigt werden müssen, denn confirm heißt so viel wie bestätigen.“

„Die alte war viel einfacher.“

„Da stimme ich dir zu, Moritz, aber wir schaffen das auch mit diesem, an sich ja sehr guten Gerät.“

„Ja, ja, das wollte ich ja auch haben, weil innen alles aus Edelstahl und nicht aus Keramik ist,“ sie sah eine Bemerkung erwartend zu ihrem Mann, doch als der schwieg, fuhr sie fort, „die Keramik ist zu schnell von der Wandung abgesprungen und dann…“

„…korrodiert das Gehäuse. Wir werden schon klarkommen, wir lernen das. Wollen wir zusammen nochmal alles durchgehen?“

„Lass mich es nochmal allein versuchen, Ja?“

„Na klar. Mach das. Ich setze mich an den Computer und überlege, wie wir die Knöppe besser kennzeichnen könnten.“

Als Balladu um halb zwei mit einem A4-Zettel in der Hand wieder aus dem Keller, wo sich sein Arbeitsraum, in dem ehemaligen Kinderzimmer ihres längst erwachsenen und bereits vor Jahren ausgezogenen Sohnes, befand, saß die Frau im Wohnzimmer auf ihrem Stammplatz links neben der Tür in der Ecke und löste Kreuzworträtsel, eine ihrer Lieblingstätigkeiten. „Na, weißt du jetzt Bescheid, Moritz?“

„Ich hab‘ aufgegeben. Das ist alles zu verwirrend.“

„Verstehe. Außerdem funktionieren die Druckknöpfe nicht besonders gut. Erst muss man sie ertasten und dann sehr kräftig drücken. Trifft man nicht genau den Kopf, dann piepts auch nicht.“ Während er das sagte schwenkte er sein Blatt Papier hin und her.

„Was hast du da?“

„Ach ja,“ sagte Balladu, als ob er das Blatt bereits vergessen hatte, „das ist eine Skizze mit allen Knöpfen und einer genauen Bezeichnung mit roter Umrandung für die wichtigsten, die anderen schwarz. Vielleicht sollten wir an die Knöpfe entsprechende Zahlen ankleben?“ Er legte der Frau das Papier auf den Tisch. „Was meinst du?“

Die Möller betrachtete das Bild nur kurz, „ist immer noch zu kompliziert – finde ich.“

Balladu dachte schweigend nach.

„Vielleicht nur die roten Zahlen?“ fügte die Frau hinzu.

„Gute Idee. Ich denke, dass wir ohnehin nur drei Tasten brauchen. Zumindest am häufigsten brauchen.“

„Drei Tasten!“ konstatierte die Frau, „das könnte mir gefallen.“

„Hast du etwas zum Ankleben? Etiketten oder so? Dann mach ich das.“

„Gib mir Deine Skizze, ich finde was und dann mache ich das.“

„Gut. Wir sollten vielleicht unterschiedliche Farben wählen. Das wichtigste wäre, die Taste 6 ‚Stopp/Clear‘ rot zu kennzeichnen und die andern vielleicht grün?“

„Ich denk darüber nach und mache das.“

Sie absolvierten wie jeden Tag ihren Spaziergang, danach widmete sich zu Hause wieder jeder seinem eigenen Hobby. Balladu ging zurück in den Keller, nicht ohne vorher sein Abendbrot vorprogrammiert in die Röhre geschoben zu haben, während die Möller sich ins Wohnzimmer zu ihren Rätseln setzte. Aus ‚Diät‘ Gründen verzichtete sie auf ein Abendbrot.

Als um 18 Uhr die Bratröhre in der Küche zu piepen begann, stand Balladu auf, speicherte seine Arbeit, inzwischen machte er das aus Sicherheitsgründen mindestens zehnmal am Tag, ging die Treppe nach oben, um sein Abendessen aus der Röhre zu holen. Als erstes warf er aber doch kurz einen Blick auf die Mikrowelle, stutze, ging näher und … lachte schallend los. Es dauerte nur Sekunden, da stürzte seine Frau in die Küche, „was ist los? Ist was passiert?“

„Und ob meine liebes Weib,“ er zeigte auf die Mikrowelle, „das ist der Beweis!“

„Was denn für ein Beweis? Gefällt dir das nicht mit den zwei roten und dem einen grünen Punkt?“

„Doch, doch, das hast du wunderbar gemacht!“ Dennoch lachte der Mann weiter.

„Aber worüber lachst du denn dann?“

„Über eine Erkenntnis mein Moritz, eine Erkenntnis über die sich schon viele Männer den Kopf zerbrochen haben.“

„Ja und, was soll das denn sein?“

„Wie Frauen ticken!“

„Aber was hat das mit unserer Mikrowelle zu tun?“

„Sie mal Frau,“ wieder zeigte er auf die Pünktchen, die sie angebracht hatte, „du hast die beiden Knöpfe Zeit und Start rot gekennzeichnet und die Stopptaste grün. Ich hätte es genau umgedreht gemacht, verstehst du?“

Die Möller sah zur Mikrowelle, dachte angestrengt nach, sah zurück auf ihren Mann, „na gut, mein Mann, aber dann kann ich dir jetzt genauso gut sagen, dass ich endlich verstanden habe,“ sie machte eine kleine Pause, sie sah, dass ihr Mann voller Aufmerksamkeit war und fuhr fort, „wie die Männer ticken.“

„Volltreffer!“ stimmte Balladu zu und beide lachten aus vollem, und für den Moment zufriedenem, Herzen.

Nachbemerkung:

Die erste Fassung dieser Geschichte hatte mein Freund Balladu verfasst. Bei ihm sollte der Titel heißen ‚Wie Frauen ticken‘, aber dann fand er, dass dieser Name sofort die Feministinnen auf den Plan rufen könnte und reichte den Entwurf an mich weiter. Das fand ich auch gut, denn es liegt ja auf der Hand, dass das Thema logischer Weise aus beiden Richtungen betrachtet werden kann. Und ich denke sogar, betrachtet werden muss. Auf gar keinen Fall sollte mit der Überschrift weder die Frau noch der Mann zum Sündenbock gemacht oder ganz und gar hintergangen werden. Deshalb ist obige Geschichte das Werk von Mann und Frau.

Wie gut, wenn Mann und Frau auch ‚nur‘ Freunde sein können.

Leseprobe Buch 9

Leseprobe aus ‚Lose Blätter‘, dem 9. Buch von Max Balladu

EWa – Weggefährten (1)

Ich war 14, hatte ein sonniges Gemüt und war pummelig, was zur damaligen Zeit kein Makel war. Der Vorgarten war der mir vom Vater zugewiesene Beitrag zur Pflege von Haus und Garten. Dort war ich bei eitel Sonnenschein im Sommer und schwitzte. Auf einmal fiel ein Schatten über die Beete.

Als ich aufsah, stand da ein fremder, etwa gleichaltriger Junge und grinste.

„Tach, ich bin Bahni.“

„Was für ein Name!“

„Na eigentlich heiße ich Klaus-Dieter Bahnhof. Wer will schon so heißen! Also nannten mich alle seit dem Kindergartenalter Bahni. Das ist was Besonderes, also gut.“

Ja, so war er, er musste immer irgendwie aus der Reihe tanzen, bei dem was er tat, sagte oder wie er aussah. Er erklärte mir, dass er zu seiner Mutter in das gegenüberliegende Haus gezogen war. Seine Mutter hatte den Witwer geheiratet, der dort lange allein gewohnt hatte. Sie hatte ihren Sohn noch bei ihrer Verwandtschaft gelassen, bis sie sich sicher war, dass ihr neuer Mann mit diesem besonderen Sohn fertig werden könnte.

Nun also war er hier.

Mir gefiel, wie er aussah und ich bewunderte seine Kühnheit, mich einfach anzusprechen, so allein, nur er und ich. Normalerweise passierte das Kennenlernen Gleichaltriger in der Gruppe. Aber wir verstanden uns sofort. Er war lustig und bei Erwachsenen immer höflich. Das gefiel auch meinen Eltern. Sie vertrauten ihm. In seiner Gesellschaft durfte ich später, mit 16! zum Tanzen ins Nachbardorf. Mit dem Fahrrad erreichten wir alle Tanzflächen bis etwa 15 km Entfernung von zu Hause. Wir hatten eine tolle Abmachung. Wir fuhren gemeinsam hin, tanzten den ersten Tanz und auch den letzten und was in der Zwischenzeit passierte, ging den jeweils anderen nichts an. Mir ging es gut dabei, ich hatte einen Beschützer und war ihm dennoch zu nichts verpflichtet.

Um diese Zeit herum richtete unser Dorf auf dem Saal der Gaststätte den Talente Wettbewerb im Schlager- und Volksliedergesang aus. Natürlich wollten wir Mädchen sehen, wen wir kannten von denen, die sich auf die Bühne trauten. Ich glaubte zu träumen. Da stand doch wirklich Bahni auf der Bühne und sah zu mir herüber. Er sang ‚Marina, Marina, Marina‘ mit meinem Namen. Ich versuchte zu lächeln, aber am liebsten hätte ich mich unter dem Tisch verkrochen. Alle sahen mich an. Ich war puterrot und schämte mich. Wieso eigentlich? Hätte ich nicht stolz sein können, dass da einer für mich sang? Öffentlich? Ob er mit diesem Schlager einen Platz gewonnen hat, weiß ich nicht mehr.

Aber an eine andere, für ihn typische Begebenheit, erinnere ich mich genau. Mein Zimmer lag zur Hofseite raus. Ich war gerade ins Bett gegangen, da fielen kleine Steinchen an mein Fenster. Zuerst war ich erschrocken, doch dann dachte ich, dass das nur Bahni sein könnte. Also lugte ich hinter der Gardine hervor. Da stand er und hielt einen großen Strauß Blumen in der Hand. Ich öffnete das Fenster, er sprang in die Höhe, ich griff nach dem Strauß, er winkte und schon war er verschwunden. Rot waren die Blumen. Wie sonst? Es waren viele rote Tulpen. Ich umarmte sie, stellte sie dann lächelnd in eine passende Vase und diese wiederum in den Hausflur auf die Konsole, auf der das Telefon stand. Wir hatten nämlich als eine der wenigen Familien im Ort ein Telefon, weil mein Vater selbständig war. So kam es häufig vor, dass Leute aus der Straße zu uns kamen oder bei uns Anrufe ankamen und wir die entsprechenden Personen ans Telefon holen mussten. Am anderen Tag musste ich Frau Kahle holen, die drei Häuser weiter wohnte. Sie kam auch gleich mit. Als sie unseren Hausflur betrat, schrie sie: „Da sind ja meine Tulpen!“ Ich verschwand in mein Zimmer und hoffte, dass mein Vater nichts von dem Vorfall mitbekommen hatte. Als Frau Kahle mit dem Telefonat fertig war, hatte sie sich schon etwas beruhigt, rief mich und meinte nur:  „Na so ein Lümmel, aber kannst die Blumen behalten, sieh dich nur vor, wer beim Nachbarn Blumen stiehlt, wird später auch andere Dinge stehlen.“

Sei behielt nicht recht. Aber Blumen hat er mir noch öfter gebracht. Von denen erfuhr ich aber nicht, woher sie waren. Ich nahm sie und freute mich, trotz eines mulmigen Gefühls. Denn es waren nie Blumen, die im Garten seiner Eltern wuchsen.

Jahre vergingen, wir feierten Geburtstage, Silvester, Schulabschlüsse gemeinsam mit Freunden. Oft bei Bahni im Elternhaus. Vater und Mutter quartierten sich für zwei Tage bei Bekannten ein und Bahni und ich beseitigten am Morgen nach der Fete die Spuren und Reste. Doch meist uferten unsere Treffen nicht aus und wir hatten manchmal auch am Tag danach noch Hilfe von den Freunden. Wenn die Mutter Bahnis am Mittag auf der Matte stand, verlief die Abnahme immer ohne Beanstandungen. Bloß gut, dass alle anderen Eltern, auch meine, waren nicht bereit, ihre Wohnungen für unsere Feiern zur Verfügung zu stellen.

Inzwischen hatte ich in Jena mit dem Studium begonnen und schwänzte jeden zweiten Sonnabend die Vorlesungen, um nach Haus zu fahren. Oft erwartete mich Bahni auf meinem Umsteigebahnhof Magdeburg und fuhr dann mit mir gemeinsam mit dem Personenzug in unser Heimatdorf. Doch einmal, im Dezember, hatte er die verrückte Idee, wir könnten doch noch den Weihnachtsmarkt in der Bezirkshauptstadt besuchen. Nur ein paar Pfennige in der Tasche, aber voller Neugier, liefen wir an den Buden vorbei, freuten uns über die bunten Auslagen und staunten über die großen Karussells. Dann war da eine riesige Rutsche, die man auf Kokosmatten sitzend, herunterrasen konnte. Nur einmal, nur einmal möchten wir da rutschen. „Du musst lächeln, dem Kartenverkäufer in der Bude schöne Augen machen, vielleicht darfst du für die Hälfte des Preises.“ Wir hatten unser Klimpergeld gezählt und festgestellt, dass es nur für ein und eine halbe Karte reichte. Mit heftigem Herzklopfen näherte ich mich dem Kartenhäuschen. Bahni blieb weiter weg stehen. Günstig war schon mal, dass der Mann jung war und ihm die Anlage sicher nicht gehörte. Es klappte mit unserem Plan, er verkaufte mir eine Kinderkarte und eine für Erwachsene. Wir hofften nur, dass oben, wo die Matten lagen, der Kontrolleur nicht so genau hinsah. Beim Abwärtssausen schrien wir vor Glück, weil unser Plan aufgegangen war und weil die rasende Fahrt sich einfach herrlich anfühlte. Beschwingt gingen wir zum Bahnhof, stiegen in den Zug nach Hause, unsere Augen leuchteten, ja man kann sagen, wir waren glücklich. Da kam die Schaffnerin in unser Abteil. Bahni stand auf und verschwand ganz lässig. „Bis zu Hause.“ Was? Wo wollte er denn die nächste halbe Stunde bleiben? Ich war ziemlich naiv. Er hatte keine Fahrkarte und da er ohne Eile ging, schöpfte die Kontrolleurin wahrscheinlich keinen Verdacht. Im Heimatort angekommen, nahm er meinen Koffer und sagte: „Hast du gut gemacht.“ Was hatte ich gut gemacht? Nahm er etwa an ich hätte der Schaffnerin eine Geschichte über sein Verschwinden vorgelogen? Wir haben nie wieder darüber gesprochen.

Ein Jahr später war ich verheiratet, hatte eine Tochter und konnte nur noch selten nach Hause fahren. Nach dem Studium wohnte ich in einer schönen Stadt am Rande des Erzgebirges. Doch das war auch schon alles, was schön war. Mein Mann betrog mich, ich war mit Kind, Arbeit, Haushalt und dem unzuverlässigen Mann völlig überfordert. Nach eineinhalb Jahren ließ ich mich scheiden. Einige Wochen vergingen, da klingelte es Sturm an meiner Wohnungstür. Ich empfand dieses Sturmklingeln als ungehörig, noch dazu, wo es schon fast 22 Uhr war. Als ich die Tür öffnete stand Bahni schwankend und schmutzig vor mir. „Entschuldige,“ lallte er, „ich musste mir erst Mut antrinken. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Ich zog ihn ohne Worte in die Wohnung, legte den Finger auf den Mund, damit er leise war und ihn ins Bad verfrachtet. „Wasch dich, ich mache dir eine Schlafgelegenheit zurecht.“ Er gehorchte. Aus Decken und zwei Sofakissen baute ich ihm auf der Erde in der Stube ein ‚Bett‘. Ohne Widerstand legte er sich wie ein Hund vor mein Bett und schlief sofort ein. Jetzt erst merkte ich, wie angespannt ich war. Langsam lösten sich meine Bedenken.

Am anderen Morgen ließ ich ihn schlafen, brachte meine Tochter in den Kindergarten und ging selbst zur Arbeit. Meinen zweiten Wohnungsschlüssel hatte ich vor seinen Kopf gelegt, mit der Bitte gut abzuschließen und den Schlüssel in den Postkasten zu werfen. Dort fand ich ihn auch vor, als ich nach Hause kam. Doch am Abend, dieses Mal zur rechten Zeit, stand Bahni wieder vor der Tür. Ich glaube, ich hatte so etwas auch erwartet. Von der Nacht vorher sprachen wir nicht, es war ihm sichtlich peinlich und ich wollte über meinen Ärger nicht mit ihm sprechen. Dieser Abend wurde aber schön. Wie früher. Er erzählte von seinem jetzigen Studium ganz in der Nähe. Ich erzählte von meinem Heimweh und beide lachten wir über alte Begebenheiten. Wir tranken Wein, aßen ein paar Häppchen und fühlten uns beide sehr verbunden. Noch immer bin ich dankbar, dass er nicht versucht hat, unsere Freundschaft in eine Liebelei umzumünzen. Er bereitete dieses Mal seine Schlafgelegenheit mir zu Füßen und sang für mich noch ein Schlaflied, leise, damit meine Tochter im Nebenzimmer nicht wach wurde. Am Morgen verließen wir zu dritt die Wohnung. „Wie eine richtige Familie,“ schoss es mir durch den Kopf. Aber gleichzeitig signalisierte mein Gehirn: Niemals!

Zweimal kam er noch in den zwei Jahren, die ich dort zu Hause war. Danach hatte ich mich in die Heimat versetzen lassen, mir ging es gut – auch ohne Mann.

Plötzlich tauchte Bahni wieder bei mir auf, nüchtern, aber irgendwie angestrengt. Komisch war für mich, dass ich mich nicht freuen konnte. Hatten wir uns zulange nicht gesehen? Waren wir uns fremd geworden? Ich mahnte mich zur Vorsicht. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass ich instinktiv gespürt hatte, dass dies kein gutes, kein einvernehmliches Zusammensein werden könnte. Unser Gespräch bleib angespannt. Bis er ganz plötzlich über den Tisch langte und mich zu sich heranzog. Ich wehrte ihn ab und meinte, er solle gehen, wenn er seine Hände nicht bei sich behalten könne. Da wurde er wütend, umschlang mich von hinten und begrabschte mich. Blitzschnell liefen in meinem Kopf Möglichkeiten ab, wie ich ihn bändigen und rausschmeißen könnte. Keinesfalls dürfte ich Lärm machen, denn meine Tochter schlief nebenan. Scheinbar tat ich intuitiv das Richtige. Ich sagte ruhig, „sieh mal, willst du alles kaputtmachen? Wir haben uns immer gegenseitig vertraut. Soll das nun zu Ende sein?“ Er lockerte seinen Griff und schob mich sacht beiseite. Ohne ein weiteres Wort ergriff er seine Jacke und verließ das Haus. Noch einmal war er wiedergekommen. Aber zwischen uns war eine Mauer. Ich war voller Vorsicht und er scheinbar voller Schuldgefühle. Wir haben uns nie wiedergesehen.

Er hatte eine Gastwirtin geheiratet, mit ihr ein gutgehendes Hotel betrieben und rief mich mehrmals an, um mich zu sich einzuladen. Ich lehnte jedes Mal ab. Dann kam ein Anruf, der mich erschreckte: Es ginge ihm nicht gut, er habe schon zweimal Chemo überstanden, er würde mich gern noch einmal sehen. Ich verneinte, wünschte ihm dennoch alles Gute und legte den Hörer auf. Es kann kein Anruf mehr. Ein Jahr später erzählte mir seine Mutter, dass er an Krebs gestorben sei.

Alles in allem denke ich gern an diesen ‚Weggefährten‘ zurück. Er hat, wie kein anderer, meine Kindheit und Jugend bunter gemacht.