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Erdgasausfall

 1. Auszug aus Balladus neuem Roman ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

V-Fabrik, Mittwoch, 23. Januar 2017

„Haben die Yankees doch tatsächlich diese Pappfigur Trump zum Präsidenten gewählt“, schnaufte Hossa, „ich fasse es immer noch nicht!“ Er warf seinen Helm polternd auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Während die anderen Operatoren gleichgültig blieben, erwiderte Balla in der für ihn typischen Art, „ne janz schön teure Pappfigur, millionenschwer“, Balla präsentierte soldatisch sein Plasterohr, „vielleicht liegt aber gerade darin eine – versteckte – Gefahr?“

„Du denkst an Nordkorea, Emil?“ fragte die Paulus.

„Vielleicht sogar schon bald,“ meldete sich Jonny Adler zu Wort, „hört mal, was ich gerade im Internet gefunden habe: ‚Die USA verlagerten vier ihrer insgesamt 19 Flugzeugträger ins Japanische Meer. 600 Marines wurden in Goseong in der Provinz Gangwon im Nordosten von Südkorea stationiert. Für die nächste Woche waren nördlich von Seoul Manöver der südkoreanischen Streitkräfte mit U. S. Army und U.S. Navy geplant. Die nordkoreanische Volksarmee konzentrierte einen Teil ihrer Landstreitkräfte südlich der Städte Kosong, Pyonggang, Chorwon, Kaesong und Yonan. Obwohl China angekündigt hatte sich aus dem Konflikt herauszuhalten, verlagerten auch sie zumindest einen Teil der gruppenunabhängigen Luftlandetruppen nach Yanbian in den grenznahen Bereich zu Nordkorea und Russland.‘ Ist das nicht der blanke Wahnsinn?“

„Ein Atomkrieg, Leute,“ Emil stöhnte theatralisch, „dann war es wohl nicht zu früh, dass ich mein Testament aufgesetzt habe.“

„Du bist ein Arsch Balla,“ schnaufte Günther Hossa, „was hast du alter Sack denn zu vererben?“

„Das Schlimme ist doch immer“, unterbrach die Paulus ärgerlich das Geplänkel zwischen den zwei Freunden, „diese Großkopferten Milliardäre befehlen den Krieg und lassen dann die anderen, die Kleinen die Dreckarbeit machen!“

„Und vor allen Dingen dürfen sie, die Kleinen, also wir, sterben,“ ergänzte Balla, „für die Reichen und künstlich Schönen, wie unser Doc – Marx hab ihn selig – immer gesagt hat, sie lassen…“

„Äh Leute!“, meldete sich lautstark die kleine Streller, „am Baueingang ist gerade das Signal Erdgasdruck ‚Tief‘…“

„Ich nehme die flüssigen Rückstände hoch“, sagte Adler sofort, weil er blitzschnell festgestellt hatte, das kein Fehlalarm vorlag, sondern der Druck tatsächlich abfiel. „Passt auf die Spaltung auf!“, fügte er noch schnell hinzu und konzentrierte sich dann ganz auf die Rückstandsverbrennung.

„Susanne du übernimmst Spaltung 1“, sagte die Paulus ruhig und bestimmt, „dann kann Tanja sich auf die Zweite konzentrieren. Ich informiere die Ingenieure.“

Die amtierende Schichtleiterin Eva Paulus rollte mit ihrem Arbeitssessel zum Telefon, doch bevor sie das Mobilteil aus der Basisstation herausnehmen konnte, klingelte der Apparat.

„Jetzt kommt bestimmt die Erklärung, Eva“, sagte Adler, während die Frau das Gespräch annahm.

Die Paulus lauschte, ohne etwas zu sagen, legte den Hörer wieder zurück und stand auf. „Es gibt einen Schaden an der Erdgasleitung zwischen Teutschenthal und unserem OPA-Werk. Wir stellen beide Spaltöfen ab. Du Jonny versuchst so lange, wie möglich, die Verbrennung in Gang zu halten.“

„Kein Problem“, sagte Adler, „ich helfe Tanja die V-Destille 2 in Gang zu halten.“

„Okay Jonny, mach das.“ Sie drehte sich um, „Emil, Günther …“

„Sind schon unterwegs“, kam Balla der Frau zuvor.

Hossa zeigte auf seinen Freund. „Du Spaltung1?“

„Aye, aye, Sir!“

Die beiden Männer verließen schnell den Kontrollraum.

Noch bevor sich die Tür wieder schloss, betraten Harry Kupfer und Michael Stolz die Messwarte und gingen mit fragendem Blick auf die Paulus zu.

„Ihr habt wirklich den siebten Sinn“, sagte die Frau lächelnd, „Erdgasversorgung ist ausgefallen. Wir stellen gerade die Anlage ab!“

„Quatsch siebter Sinn,“ brummte Klaeske und ging dichter an die Bildschirme heran.

„Die neue Technik, Eva,“ flüsterte Stolz erklärend der Paulus ins Ohr, „ich habe das auf meinem Laptop mitbekommen.“

Ohne weitere Worte ging Stolz weiter zu den Prozessleitstationen von Tanja, während Kupfer bereits Jonny über die Schulter schaute, um zu sehen, ob die Verbrennung noch lief. Stolz sah Tanja zu, wie sie gemeinsam mit Jonny, der nur noch ab und zu einen Blick zur Verbrennung warf, die V-Destillation 2, die nun in sich betrieben werden musste, wieder ins Gleichgewicht brachte.

„Ich wundere mich nicht, dass Stumpfberg in Rente gegangen ist, Harry“, sagte Stolz, „das läuft hier ja alles wie geschmiert.“

Der 35-jährige Michael Stolz war ein stattlicher Mann, groß, breitschultrig, mit kräftiger, athletischer Figur, lockeren, halblang geschnittenen, dunkel-braunen, leicht rötlichen Haaren. Das Barthaar wäre bei ihm rot geworden, aber von Barttragen hielt er ohnehin nichts. Stolz war in Mainz geboren worden, hatte dort auch die Schule bis zum Abitur besucht. Seine Wehrpflicht konnte er mit einer Längerverpflichtung bei der Marine absolvieren. Von 2007 an studierte er Verfahrenstechnik in München und ging nach erfolgreichem Abschluss zur Firma Boechst nach Knappsack in die dortige B-Anlage. Am 1.9.2014 wechselte er zu OPA Industrial nach Halle und wurde in der V-Fabrik Fachingenieur für den V-Teil der Anlage.

„Geschmiert“, murmelte Kupfer mürrisch und zeigte mit der rechten Hand in Richtung Ausgang, der zur Anlage führte, „geschmiert wurde da draußen bestimmt schon lange nichts mehr.“

„Apropos geschmiert“, Stolz lachte kurz auf, „habt ihr eigentlich schon Amado informiert?“

„Bin schon dabei“, antwortete die Paulus kopfschüttelnd, weil Kupfer wieder meckern musste, verkniff sich aber eine bissige Antwort, denn sie wartete bereits darauf, dass der Chef sich meldete. Außerdem hatte sie Stolz zynische Bemerkung, die heutzutage leider immer mehr zur Realität gehörte, wieder besänftigt.

Da Amado auch nichts weiter zu dem Erdgasausfall sagte oder fragte, schob sie ihren Stuhl neben den der Cremer, die sich mit Spaltung 1 und der V-Destillation 1 herumschlug und setzte sich. „Soll ich dir die HCl-Kolonne abnehmen?“

„Ja, danke.“

Die Frauen arbeiteten still nebeneinander, bis die Anlage auf die neuen Bedingungen eingestellt war.

Susanne Cremer war eine hübsche, gut proportionierte vollschlanke Frau, der es inzwischen keine Sorge mehr machte, dass man sie für zu dick halten könnte. Die 56 Jahre alte, immer noch sehr attraktive Frau, war erstaunlicher Weise nicht verheiratet, hatte aber eine inzwischen erwachsene Tochter. Ihr ruhiger und ausgeglichener Charakter machte sie noch sympathischer. Sie redete nur, wenn sie auch etwas zu sagen hatte. Der ehemalige Anlagenleiter Dr. Prost hatte sich immer gern mit ihr unterhalten. Sie konnte auch zuhören und so wurden es mit ihr auch tatsächlich Gespräche mit Rede und Gegenrede. Als sich nach der politischen Wende 1989 die Veränderungen in der Wirtschaft abzeichneten, hatte Prost ihr, auf ihre Frage hin, geraten, vom Labor auf die Anlage umzusatteln, also Operator zu werden. Das hatte sie mit Bravour getan und nicht bereut.

Die Paulus griff wieder zum Telefon, „ich will mich mal erkundigen, wie lange die ganze Sache dauert. Hoffentlich müssen wir nicht die gesamte Anlage abstellen.“ Während sie sprach wählte sie die entsprechende Nummer, hielt den Hörer ans Ohr und lauschte.

„Teutschenthal, gutes Timing, Eva. Gerade habe ich die Information bekommen. Das Leck haben sie gefunden. Wir stellen um auf die zweite Versorgungsleitung. Das wird etwa eine Stunde dauern. Okay für euch?“

„Wir wollen es hoffen, weil wir für die Rückstandsverbrennung immer Erdgas benötigen, denn ohne diesen Anlagenteil steht die gesamte V-Fabrik.“

„Das heißt also, dass ihr abgestellt habt?“

„Nein, noch nicht, vorerst nur die Spaltöfen. Wir versuchen mit der von Hand gesteuerten Verbrennung flüssiger Rückstände, die Anlage in Gang zu halten. Wenn uns das gelingt, bleiben die DC- und Oxi-Reaktoren weiter in Betrieb, bis der Feedtank voll ist.“

„Reicht dafür die Zeit?“

„Ja, das klappt. Ich habe gerade mal überschlagen.“

„Wunderbar. Ich melde mich, wenn wir fertig sind.“

„Warte, noch eine Frage, kommt dann bei der Inbetriebnahme der anderen Leitung zuerst nur Stickstoff?“

„Das dürfte kaum spürbar für euch sein, denn es wird alles gründlich mit Erdgas gespült.“

„Okay, hoffen wir das Beste. Und Tschüss.“

Die Paulus legte den Hörer wieder zurück aufs Telefon.

„In einer Stunde haben wir wieder Erdgas,“ sagte sie laut, damit alle Bescheid wussten und setze sich wieder neben Susanne.

Die Schichtleiterin Eva Paulus war nicht nur eine kluge Frau, die durch ihre ruhige und bestimmte, unaufdringlich wirkende, aber unmissverständliche Art auffiel, sondern auch mit ihren 62 Jahren immer noch eine attraktive Erscheinung. Ihre Intelligenz und Schlagfertigkeit sorgte für ein gutes Verhältnis sowohl zu Frauen wie zu den Männern.

Nach ein paar Minuten sagte die Paulus, „ich habe dich neulich mit dem Leiter unserer Nachbaranlage auf der Straße stehen sehen. Das soll doch ein Schotte sein. Kennst du den näher?“

„Kannst du dich noch an den tödlichen Unfall bei Plast erinnern Eva?“

„Ja, klar. Das ist doch erst vor ein paar Monaten passiert.“

„Im November, genau am Ersten.“

„Das weißt du so genau?“

„Na ja,“ sagte die Cremer zögerlich.

„Nun red‘ schon. Ich habe doch dein Gesicht da auf der Straße gesehen.“

„Genau an jenem Tag saß ich mit meiner Tochter…“

„Wie alt ist deine Tochter jetzt eigentlich schon, 25?“

„Sie ist 32…“

„Wow,“ seufzte erstaunt die Paulus.

„… ja, ja. Die Zeit vergeht rasend schnell.“

„Je älter man wird, umso schneller scheint die Zeit zu laufen,“ pflichtete die Paulus bei, „wenn man das an den Kindern misst, saust die Zeit nur so dahin und wir … egal, erzähl weiter. Du hast mit deiner Tochter wo gesessen?“

 

Merseburg, Dienstag 1.November 2016

Wir wollten im ‚Goldenen Hahn‘ zusammen Abendbrot essen. Gerade hatten wir bestellt, da kam ein mittelgroßer, schlanker Mann, der etwa in meinem Alter sein musste, ins Lokal. Mir kam der Mann bekannt vor und deshalb war ich wohl aufmerksamer und bemerkte, wie er mit dem Kellner redete, denn die Gaststube war ziemlich voll. Dennoch herrschte hier immer eine ruhige Stimmung, sicher wegen der gepfefferten Preise. Dafür lohnte es sich aber auch, hier zu speisen, denn die ausgezeichneten Küche sorgte für einen geschmacklichen Hochgenuss. Das war wohl überhaupt der Grund für den guten Besuch an fast jedem Abend. Nach ein paar Minuten kam der Kellner zu uns an den Tisch. „Bei Ihnen sind ja noch zwei Plätze frei, darf ich einen davon einem älteren Herrn anbieten?“

„Vielleicht haben sie ja auch noch einen Jüngeren – dazu?“ bemerkte meine Tochter grinsend.

„Selbstverständlich“ sagte ich schnell, sah entschuldigend zum Ober und dann kopfschüttelnd zu meiner Tochter.

Wortlos verschwand der Kellner und wenig später setzte sich der Mann, einen Gruß, den ich nicht verstehen konnte, vor sich hin brummelnd.

Nur wenig später brachte der Ober ein Bier und einen braunen Schnaps, vermutlich irgendeinen Weinbrand, in einem ziemlich großen Schwenker. Das wunderte mich. Ich sah mir den Mann, der keinerlei Notiz von uns nahm, genauer an und war mir schnell sicher, dass ich ihn von irgendwoher kannte.

„Das klang doch,“ begann Svenja flüsternd, „ich meine den Gruß unseres Tischangehörigen, vermutlich – englisch?“ und sah mich an.

‚Genau,‘ dachte ich, ‚das könnte dann vielleicht der Leiter der Plastanlage sein.‘ Und der, das glaubte ich zu wissen, war ja Engländer.

Der Ober kam sofort mit einem zweiten Schnaps, als er sah, dass sein Gast ausgetrunken hatte.

‚Oh je!‘ – Jetzt verstand ich das Verhalten. Heute Vormittag hatte es den tödlichen Unfall in der Nachbaranlage gegeben. Hatte er, der übergeordnete Verantwortliche, den schwerwiegenden Fehler zu verantworten? Doch auch wenn er nicht direkt Schuld hatte, sie wusste von ihrem alten Chef und Freund Thomas Prost, dass einen Betriebsleiter bei so gravierenden Vorkommnissen immer ein Teil der Schuld zufiel, ganz abgesehen von der moralischen Mitverantwortung. Auch uns in der V-Fabrik war ja zu Ohren gekommen, dass es ein subjektiver Fehler gewesen sein sollte, der zu dem tödlichen Unfall geführt hatte. Wollte der Mann seinen Kummer ersäufen?

„Was grübelst du Mutter?“ fragte meine Tochter. Doch ich wollte ihr nichts von der Geschichte sagen, zumindest jetzt und hier nicht.

„Gefällt dir der Mann oder kennst du Ihn?“ Ließ sie nicht locker.

‚Beides,‘ dachte ich und sagte, „ich sehe, dass er Kummer hat, ich würde ihn gerne ablenken. Aber ich weiß nicht wie?“

Meine Tochter sah mich verstehend, mit einem kleinen Lächeln an und sagte dann laut, „was meinst du, Mutter, ist das braune da in dem tollen Schwenker etwa Goldbrand?“

Für einen Moment sah es so aus, als hätte der Mann das verstanden, denn er sah kurz zu uns, aber sehr schnell senkte er den Blick wieder auf sein Glas. Er trank mit ziemlich finsterer Miene seinen Schnaps mit einem Ruck aus.

Der Ober brachte prompt den dritten Schnaps.

„Ich weiß nicht, Svenja, gab es Goldbrand nicht nur in der DDR und war das nicht eigentlich ein ziemlicher Fusel?“

„Ach was, Mutter, der schmeckte doch besser als Whisky.“

Plötzlich sah der Mann meine Tochter an, „gab es denn in der Sowjetzo…“ er brach ab, weil das Lächeln aus den Gesichtern der Frauen verschwand, „…sorry, der DDR auch Whisky?“

„Keine Ahnung,“ antwortete Svenja wieder lächelnd, „ich habe mit vier Jahren das Land verlassen, in dem ich geboren worden bin.“

Am Gesicht des Mannes wiederspiegelte sich ungläubiges Staunen, aber er schwieg. Ich hatte das Gefühl, keine Ahnung warum, dass dieses belanglose Gespräch den finster blickenden Mann, von seinen schwerwiegenden, bedrückenden Gedanken ablenken könnte. Deshalb versuchte ich den Satz meiner Tochter mit besonders freundlich klingender Stimme zu erklären. „1989 ging die Ära der DDR zu Ende und bereits 1990 gehörten wir alle zur BRD.“

„Amazing“, murmelte der Mann, „yeah – das hatte ich vergessen. Entschuldigen sie.“

„Wieso denn entschuldigen,“ platzte meine Tochter los, schwieg dann aber abrupt.

„So ein Unsinn,“ fügte ich hinzu, „man hört es doch an ihrer Aussprache, dass sie nicht von hier sind. Darf ich sie fragen woher sie kommen?“

„Ich lebe schon seit 2001 in Deutschland, aber den englischen Slang werde ich wohl nie ganz los.“ Er schwieg, dachte nach, trank einen Schluck Bier, ließ aber den Schnaps stehen.

„Entschuldigen sie, mein Name ist Finley MacAskill. Ich bin kein Engländer, ich bin Schotte.“

„Ich bin Susanne Cremer und das ist meine Tochter Svenja.“

„Deligthed,“ sagte der Schotte, sah mich an und fügte hinzu, „sie sehen sehr jung aus dafür, dass sie so eine große Tochter haben.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, sagte Svenja nachdenklich, „Schotte? – Dann ist das tatsächlich Whisky in dem schönen Glas?“

„Ein Smokehead 18 – Ardbeg. Wenn sie wollen, I would be pleased, wenn sie diesen Whisky mit mir zusammen trinken.“ Ein leichtes Lächeln flog über das Gesicht des Mannes, dass mich mehr beeindruckte, als ich mir eingestehen wollte.

„Sorry,“ fuhr Svenja fort, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht, offensichtlich hatte ihr das Lächeln des Mannes auch gefallen und vermutlich hat sie außerdem meine Empfindungen gespürt, „ich muss noch fahren, aber ich hätte schon gern einen gekostet.“

Svenja, drehte ihren Kopf zu mir, „aber du vielleicht, Mutter?“

„Nein, auf keinen Fall,“ sagte ich zu schnell, überlegte erst dann, ich wollte ja unbedingt, dass der Mann sich nicht aus Kummer besäuft, sah aber gleich, dass meine Absage die gerade erst aufflackernde Offenheit im Gesicht des Schotten sofort wieder verschwinden ließ. Also versuchte ich eine Wende, „na ja, der ist doch sicher zu stark – für mich.“

Ich sah, wie meine Tochter sich das Lachen verkniff, denn sie wusste schon, dass ich gerade harte Sachen liebte. „Probiere doch mal den Whisky, Mutter, soviel ich weiß wäre das ja Premiere für dich?“

„Das würde mich freuen, Frau Cremer. Ich kann ihnen auch versprechen, dass dieser Whisky,“ er hob sein Glas etwas in die Höhe, ließ die Flüssigkeit behutsam kreisen, „sehr weich im Geschmack ist, trotz der etwa 46 % Alkoholgehalt.“

‚Das ist ja eigentlich normal‘, dachte ich und antwortete laut, „okay, den würde ich dann doch gern probieren.“ Bevor der Mann mir antworten konnte, fragte ich schnell noch, „wie teuer ist dieser Whisky?“ und zeigte auf sein Glas.

„Das weiß ich gar nicht genau,“ er überlegte kurz, „aber ich lade sie selbstverständlich …“

„… verstehen sie mich, bitte,“ unterbrach ich ihn etwas zu hastig, „ich möchte mich…“  Ich atmetet noch einmal tief durch, um ruhiger sprechen zu können, „… auch revanchieren können.“

„Aber nein, das müssen sie nicht,“ er überlegte einen Moment, „aber wenn sie sich schon revanchieren wollen, das verstehe ich, dann mit einem Getränk, dass sie gerne trinken, okay?“

Ich dachte nach und dabei muss ich wohl eher eine abweisende Miene gezeigt haben, denn plötzlich erhielt ich einen Tritt gegen mein Schienbein. Ich sah zu meiner Tochter und die funkelte mich wild an, was ich auch ohne Worte verstand.

„Sie haben Recht Herr MacAskill …“

„Bitte sagen sie doch Finley zu mir oder, wie meine deutschen Freunde das tun, Finne.“

„Okay, mein Vorname ist Susanne. Also, ich trinke einen Whisky mit ihnen und dann trinken wir auf meine Kosten einen russischen Wodka ‚Stolitschnaja Elite‘.“

Tote brauchen keinen Himmel

Das 10. Buch von Max Balladu soll Ende 2021 oder Anfang 2022 veröffentlicht werden.

Darin erwartet die Leser:

Inhalt:

Der Roman erzählt in vier Teilen, ausgehend von drei voneinander unabhängigen Paaren, aus drei Generationen, deren Lebensgeschichten mit ihren mehr oder weniger auffälligen Verstrickungen mit Gegenwart und Vergangenheit. Der Leser lernt diese Menschen mit deren Freunden, Feinden und manchen kleinen und großen Sorgen und Freuden kennen.

  1. Zwei junge Menschen, Nina Nitz und Felix Normu, die beide im Jahr 2002 geboren wurden und zum ersten Mal in Seeleben aufeinandertreffen.
  2. Susanne Cremer, Mutter einer erwachsenen Tochter und der geschiedene Schotte, Vater zweier Söhne, Finley MacAskill, treffen in Merseburg aufeinander.
  3. Die dreißigjährige Medizinerin Dorothea Ruge und der fünf Jahre ältere Ingenieur Michael Stolz begegnen sich im Jahr 2017 in der Leporin-Klinik.
  4. Zum Ende des Romans kreuzen sich ihre Lebenswege.

Der historisch als Tarnung vor Schnüfflern entstandene und gewachsene Zwergkaninchenverein (ZKV) ‚Haase‘ e. V., bekannt aus den bereits veröffentlichten Büchern von Balladu, fungiert in diesem Roman durch seine Mitglieder als verbindendes Element in all den geschilderten historisch weit gesplitterten Vorgängen.

 

Demnächst werden in kurzen Zeitabständen Ausschnitte aus einzelnen Kapiteln des Romans hier veröffentlicht werden.

Lochen Sie nicht!

oder

Zur soziologischen Psychologie der Löcher

Kaspar Hauser, Die Weltbühne, 17.03.1931, Nr. 11, S. 389; in: Lerne Lachen

Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.

Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden. Loch ist immer gut.

Wenn der Mensch ›Loch‹ hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels.

Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finstern, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat, sie werden hineingesteckt, und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch grade aus diesem gekommen? Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.

Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs … festlig? … Dafür gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.

Das Loch ist statisch; Löcher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht.

Löcher, die sich vermählen, werden ein Eines, einer der sonderbarsten Vorgänge unter denen, die sich nicht denken lassen. Trenne die Scheidewand zwischen zwei Löchern: gehört dann der rechte Rand zum linken Loch? oder der linke zum rechten? oder jeder zu sich? oder beide zu beiden? Meine Sorgen möcht ich haben.

Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Drückt es sich seitwärts in die Materie? oder läuft es zu einem andern Loch, um ihm sein Leid zu klagen – wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines.

Wo ein Ding ist, kann kein andres sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein andres sein?

Und warum gibt es keine halben Löcher –?

Manche Gegenstände werden durch ein einziges Löchlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun das ganze übrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein, eine Jungfrau und ein Luftballon.

Das Ding an sich muß noch gesucht werden; das Loch ist schon an sich. Wer mit einem Bein im Loch stäke und mit dem andern bei uns: der allein wäre wahrhaft weise. Doch soll dies noch keinem gelungen sein. Größenwahnsinnige behaupten, das Loch sei etwas Negatives. Das ist nicht richtig: der Mensch ist ein Nicht-Loch, und das Loch ist das Primäre. Lochen Sie nicht; das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt. Wenn Sie tot sind, werden Sie erst merken, was leben ist. Verzeihen Sie diesen Abschnitt; ich hatte nur zwischen dem vorigen Stück und dem nächsten ein Loch ausfüllen wollen.

Verfasst von Kurt Tucholsky alias Kaspar Hauser.

 

Weihnachten 2020 – Neujahr 2021

Weihnachtsgedicht international und doch nur für 4 Personen

Sohn:
Einmal war ich ein kleiner Zwerg am Heidesee.
Denken an die Schule tut mir nicht mehr weh.
Musste manchmal in der Ecke steh’n.
Was war da nur geschehn’n?

Alle Vergangenheit liegt nun im Süden,
In Form kleinerer oder größerer Etüden.
Manchmal fehlte mir der Berater.
Was sagst eigentlich du dazu, Vater?

Vater:
Oh Tannenbaum, du glaubst es kaum,
fast hätte ich dich auch verhau‘n.
Ach, lieber, guter Weihnachtsmann
Schau mich nicht so böse an, ich hab’s ja nicht getan.

Frau:
Als nacktes Weib am Heidesee
Fühlt‘ ich mich wohler als im Winter mit Schnee.
Tagsüber Arbeit, die Kinder danach und nachts der Mann.
Tat ich doch alles, was man als Frau nur tun kann.

Die Vergangenheit lebt weiter in Geschichten,
Die ich den Besuchern erzähle ohne zu dichten.
Manches ist dabei, was man vergessen kann.
Was sagst eigentlich du dazu, mein Mann?

Mann:
Oh Tannenbaum, du glaubst es kaum,
dich hätte ich manchmal auch gern verhau‘n.
Doch, lieber, guter Weihnachtsmann
Schau mich nicht so böse an, ich hab’s ja nicht getan.

Schwiegertochter:
Spielte mit Karen einst im Sand an der See.
Doch bald waren es Cello und Geige juchhe.
All mein Lernen begleitete die Musik.
Sie ist mir Muse und Motor mit tausend Kubik.

Die Vergangenheit liegt um mich herum.
Ich kann sie sehen, aber sie ist auch nicht stumm.
Es klingt in adagio, allegro und auch mal andant(e).
Was sagst eigentlich du dazu klog gammel mand*)?

Gammel mand:
Oh Tannenbaum, du glaubst es kaum,
dich wollte ich noch nie verhau‘n.
Warum lieber, guter Weihnachtsmann,
Schaust du mich trotzdem böse an? Ich hab es nicht getan.

Sohn:
Weggeblasen hab ich manche Sorgen.
Dachte dabei noch nicht an das Morgen.
Obwohl ich schon spürte den Hauch der Musik.
Auch bei meinem Dienst für die Republik.

Die Gegenwart liegt auf Inseln in der See,
Suchen, finden, verwerfen, wo ist die nächste Idee?
Habe jetzt einen anderen Berater.
Und doch, was sagst du dazu, Vater?

Vater:
Oh Tannenbaum, du grüner Baum.
Diesen Menschen kannst du vertrau‘n.
Der Weihnachtsmann aber ist noch bös.
Schwingt seine Rute weiter nervös.

Frau:
Nur noch geistige Schönheit, aber auch die manchmal nackt.
So geht`s auch meinem Partner und das ist der Pakt.
An der Wirklichkeit ist nicht zu rütteln.
Da kann man mit noch so vielen Worten dran schütteln.

Ein kleines Dorf umgibt die Gegenwart.
Idyllisch, ruhig, gar nicht Standard.
Manches ist dabei, was man vergessen kann.
Was sagst eigentlich du dazu, mein Mann?

Mann:
Oh Tannenbaum du grüner Baum.
Ganz so ähnlich war auch mein Traum.
Der Weihnachtsmann schaut immer noch bös.
Schwingt seine Rute weiter nervös.

Schwiegertochter:
Gezogen und geschoben, manchmal zupf ich die Seiten.
Mein Cello muss mich überallhin begleiten.
Die Welt scheint mir beim Musizieren fast klein.
Sie wird schier unendlich denk ich an den Liebsten mein.

Die Gegenwart spiegelt sich in der See.
Ein kleines Schiff, es dreht nach Luv und nach Lee.
Manchmal stringendo, ad libitum oder auch rallentand(o).
Was sagst eigentlich du dazu klog gammel mand?

Gammel mand:
Oh Tannenbaum du grüner Baum.
Eine so schöne Tochter, es ist wie ein Traum.
Warum Weihnachtsmann bist du noch bös?
Schwingst deine Rute weiter nervös?

Sohn:
Ich komponiere, programmiere und studiere.
Manchmal streck ich auch von mir alle Viere.
Oder ich greife mir Rasenmäher, Boot oder Trecker.
Nach vollbrachtem Werk schmeckt das Essen so lecker.

Die Zukunft sind Sterne am Himmelszelt.
Jeder seine eigene Botschaft enthält.
Wie diese aussieht weiß auch kein Berater.
Oder doch? Was sagst du dazu, Vater?

Vater:
Oh Tannenbaum, man glaubt es kaum.
Die Theorie bildet die Wurzeln, fest steht dann der Baum.
Weihnachtsmann deine Rute fürchtet er nicht.
Fuchtle du nur, er wahrt trotzdem sein Gesicht.

Frau:
Ich seh in den Spiegel, zum Glück ist er klein.
Er zeigt nur den Kopf, sieht nicht in mich hinein.
Was grau vor Alter ist, das ist ihm göttlich?
Hier irrst du dich Schiller, das klingt eher spöttlich.

Die Zukunft ist zeitlos, ich fühl mich befreit.
Die Kinder der Kinder und deren Kinder gestalten die Zeit.
Bald gehören wir zu dem, was man vergessen kann.
Oder, was sagst du dazu, mein Mann?

Mann:
Oh Tannenbaum, man glaubt es kaum.
Grau ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum.
Weihnachtsmann steck deine Rute ein.
Wir wollen und werden fröhlich sein.

Schwiegertochter:
Mein Cello singt mit den anderen im Chor.
Eigentlich hatte ich doch auch noch etwas anderes vor?
Was war das doch gleich, ich frage den Wind.
Der zaust meine Haare und flüstert ein … ind.

Am Horizont hinter dem Meer leuchtet der Zukunft Schein.
Davor das Land, ein Haus – frohe Geräusche rahmen es ein.
Sie klingen giocoso, sostenuto oder auch scherzand(o).
Was sagst du nun klog gammel mand?

Gammel mand:
Oh Tannenbaum, man glaubt es kaum.
Nur mit Theorie gibt es keinen nächsten Baum.
Weihnachtsmann hier brauchst du deine Rute nicht.
Du bekommst doch auch Reisbrei oder isst du den nicht?

*) kluger, alter Mann

Trotz aller Einschränkungen:

Frohe Weihnachten für jeden Menschen und ein besseres, gesundes und erfolgreiches Jahr 2021

– 6 – Ede Ceh Fortsetzung

Biologische Kläranlage

Erklärung:

Hauptbestandteile sind:

  1. Vorklärbecken
  2. Belebungsbecken

Die eigentliche biologische Kläranlage besteht dann nachfolgend aus:

3. Nachklärungsbecken

4. Flockungsbecken

5. Nachklärbecken

Kläranlage, z. B.

6. Ablassbecken

Story

„He, wer seit denn ihr drei?“, rief Oberwächter Mik Robe der 1., der zusammen mit Wächter Mik Robe dem 2. und Unterwächter Mik Robe dem 3. zur Wassertorkontrolle am nagelneuen Biobecken eingeteilt worden war. Gleichzeitig richteten alle drei ihre Lanzen auf die in einem dunklen Wasserstrom schwimmenden, ihnen völlig unbekannten Neuankömmlinge. Sie mussten diese Fremdlinge aufhalten, während sie zur gleichen Zeit die vielen anderen Typen durchließen, die ihnen offensichtlich bekannt waren.

„Huch, passt doch auf mit euren Spießen“, sagte der größte, der von den Wächtern Angesprochenen, „ich bin Ede Ceh und die zwee Kleenen hier, die nicht stillhalten können, sind meine Nachkommen Vau Ceh und Ha Ce-el. Und wer seid …“

„Die Fragen hier stellen wir,“ unterbrach Wächter Mik Robe der Zweite, „woher kommt ihr? Und was wollt ihr hier?

Ede Ceh schüttelte vor solcher Unhöflichkeit den Kopf, verzichtete auf eine Antwort, denn im Moment hatte er auch genug damit zu tun seine Verwandten Vau und Ha festzuhalten, damit sie nicht ausreißen konnten. Den aufmüpfigen Vau musste er immer wieder auf den Boden zurückziehen, weil der Vergnügungssüchtige ständig nach oben wegzufliegen gedachte, da er glaubte, dass dort eine große Party lief. Der aggressive Ha hingegen wollte sich auf die Wächter stürzen und diese niedermachen.

Ede fluchte, „immer dieser Ärger mit den Kindern.“

Es wunderte ihn, dass nun ausgerechnet einer von den eigentümlichen grünen Kontrolleuren sagte, „warum gibst du deinem Nachkommen eigentlich nicht die Freiheit? Da oben“ und der Wächter zeigte in Richtung Wasseroberfläche, „befinden sich ohnehin die leichteren Galgenvögel verschiedenster Art.“

„Wenn du meinst. – Aber seht euch vor. Ha Ce-el ist aggressiv, vielleicht halte ich den doch lieber fest.“

Ede Ceh ließ Vau los, sodass dieser wie eine Rakete nach oben abdüste. „Was wird mit Ha und mir? Da kommen noch mehr von unserer Sorte, alles die gleichen Mol Ekühle.“

„Keine Ahnung“, Unterwächter Mik Robe der Dritte kratzte sich am grünen Kopf, „da haben uns die da oben wieder einmal nicht informiert und wir können nun sehen, wie wir zurechtkommen.“

Weil der Stau aber immer größer wurde, ließ Ede auch Ha los, worauf dieser sich sofort auf die Torwächter stürzte und diese im Handumdrehen niedermachte. Nun konnten alle Ede Cehs, Vau Cehs und Ha Ce-els in das belebte, ja geradezu brodelnde Becken strömen, in dem sich Tausende der grünen Mik Roben wie verrückt auf und ab bewegten. Die Ha Ce-els tobten ihre Aggressivität aus an diesen ihnen gegenüber wehrlosen Wesen und ätzten einen nach dem anderen zu Tode.

‚Mir egal’, dachte Ede, der sich nun nur noch um sich allein kümmern musste. Mit Interesse beobachtete er, wie von irgendwoher auch noch diese durchsichtigen, blauen Oxygene (O) kamen, die immer als Doppelpack auftraten. Zusammen mit den übriggebliebenen Mik Roben vollführten sie einen tollen Tanz, stürzten sich dabei auf die anderen, ihnen aber offensichtlich bekannten Eindringlinge, um sie zu verspeisen und kurz darauf als Ceh-zwei Oxygen (CO2), Hazwei Oxygen (W) und S. Alz (Salz) wieder auszuscheiden. Schnell merkten Ede Ceh und seine Kollegen, dass die Mik Roben ihnen kaum etwas anhaben konnten, denn wenn die mal aus Versehen einen der Cehs verschluckten, dann wurden die grünen Männchen noch grüner und kurz darauf kotzten sie alles wieder aus. Außerdem hatten die Ha Ce-els schon so gewütet, dass kaum noch welche von ihnen vorhanden waren. Ede schob alles, was ihm in den Weg kam einfach beiseite oder, wenn einer versuchte sich an ihm festzuklammern, zog er diesen mit sich in das nächste, wesentlich ruhigere Becken. Manche Ede Cehs setzten sich hier allein oder mit mehreren von den an sie geklammerten Mik Roben am Boden im Schlamm ab, aber die meisten strömten ungehindert weiter in das nächste Becken, wo es wieder lebendiger zuging.

„Vorsicht“, schrie eins der Mol Ekühle, doch es war schon zu spät. Ede bekam einen Schlag vor den Ballon, dass er glaubte Sterne zu sehen, doch das waren nur die kleinen Fällmittel Teilchen, die von oben in das Becken rieselten.

„Was war denn das? Wo kommen denn hier die Balken her?“ brüllte er aufgebracht, als er auch schon wieder einen dunklen Schatten auf sich zukommen sah. Doch dieses Mal war er schneller und duckte sich weg, sodass der Balken über ihn hinweg schwebte.

„Ede, hier musst du wieder raus“, sagte er laut und sah sich nach dem Ausgang um. Er drängelte sich an den plötzlich vorhandenen Flocken vorbei und gelangte in das nächste, nun wieder völlig ruhige Becken. Je tiefer er hier eindrang umso sauberer und damit heller wurde das Wasser. Ede Ceh legte sich auf den Rücken, sah in die Sterne, denn inzwischen war es Nacht geworden und träumte von Kata F aus der Familie der Katalysatoren ohne den Ede gar nicht auf dieser Welt wäre. Leider war es ihm nicht bestimmt gewesen sich in seine Nachkommen Vau Ceh und Ha Ce-el zu verwandeln. Doch er bedauerte sein Schicksal nicht, hatte es ihn doch ziemlich weit gebracht. So in Gedanken versunken merkte er gar nicht, dass er bereits in die Saale gelangt war.

 

– 5 – Ede Ceh Fortsetzung

Rückstandsverbrennung

Erklärungen:

zu Rückstandsverbrennung, Absorption und Desorption. Die flüssigen und gasförmigen Rückstände, die in der C-V-Anlage anfallen, müssen in einer Brennkammer drucklos bei 1250 °C verbrannt werden. Dabei entstehen Kohlendioxid (CO2), Chlorkohlenstoff  (HCl) und Wasser.

Die Reaktionsgleichungen für zum Beispiel Trian und EDC lauten:

Trian

C2H3Cl3 + 2 O2 à 3 HCl + 2 CO2

EDC

C2H4Cl2  + 2 ½ O2  à 2 HCl + 2 CO2 + H2O

Der Feuerraum besteht aus einem liegenden circa fünfzig Kubikmeter fassenden Stahlbehälter, der mit feuerfesten Steinen ausgemauert ist. Im Unterschied zur alten Verbrennung ist bei der neuen direkt an die Brennkammer ein Röhrenbündelwärmetaucher angeschlossen, mit dem aus der Energie der heißen Rauchgase Mitteldruckdampf produziert wird. Die danach nur noch 250 °C heißen Gase werden mit 20 %-iger Salzsäure, die aus dem Sumpf der Absorptionskolonne stammt, besprüht und in Korobonwärmetauschern weiter abgekühlt. Das HCl aus dem Gas wird weitestgehend absorbiert und während die 25-30 %-ige Salzsäure in einen Behälter abläuft, strömt das Rauchgas weiter in den Absorptionsturm. In der mit Glockenböden ausgerüsteten Kolonne wird der Abgasstrom vom restlichen HCl befreit, anschließend im Waschturm gewaschen, neutralisiert und über einen Elektrofilter durch den Kamin ins Freie geleitet.

Die Desorption ist nur eine, vergleichsweise, kleine Nebenanlage. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie es gestattet, aus der in der Rückstandsverbrennung anfallenden 25-30 %-igen Salzsäure das HCl zu desorbieren, also das Wasser wieder abzutrennen, sodass das trockene Gas in der Oxichlorierung wieder verwertet werden kann. Das Problem dieser Verfahrensstufe sind die Aggressivität des mehr oder weniger feuchten HCl und die extremen Arbeitsbedingungen von 165 °C und einem Überdruck von 5 bar.

Story:

Das Gefühl hatte Ede Ceh nicht getrogen, denn der Aufenthalt in dem feinen Behälter mit den emaillierten Wänden dauerte tatsächlich nicht lange. Langsam, aber sicher kam er dem Ausgang näher und plötzlich ging alles ganz schnell. Ede wurde zusammen mit den Großkopferten in eine Rohrleitung geschoben, durch einige enge Stellen hindurchgepresst und dann – Fatsch! – die Hitze riss ihn auseinander, im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich Ede in Ha Ce-el, Ceh Zwei Oxygen und Hazwei Oxygen. Ede schaffte es gerade noch seinen Kopf in ein Ha Ce-el zu retten, sodass er auch den weiteren Weg bewusst wahrnehmen konnte. Der folgende Höllenritt dauerte nur ein paar Sekunden bei 1250 °C. Der Ede im Ha Ce-el traf keinen einzigen der Ganoven wieder, obwohl einige davon, so wie er, in anderen Ha Ce-els, zumindest ihren Geist überliefert haben konnten. Trotzdem mussten auch die wieder von vorne anfangen, wenn es denn einen neuen Anfang geben würde. Er war noch nicht mit seinen Gedanken fertig, da traf ihn völlig überraschend der Kälteschock verursacht durch versprühte, in Wasser – igitt – aufgelöste Ha Ce-els. Der Ha-Ede wehrte sich mit aller Kraft und es gelang ihm auch aus dem Tohuwabohu der Quenche wieder herauszukommen, doch in dem folgenden Absorber musste er sich dann doch von Hazwei Oxygen einfangen lassen und landete in einem Behälter mit vielen anderen Ha Ce-els. Die vierfache Menge von Hazwei Oxygen machte es Ha-Ede unmöglich zu entfliehen. „Hoffentlich ist das hier kein Dauerzustand“, brabbelte er vor sich hin und spürte im selben Augenblick, dass ihn ein Sog erfasste. Der zog ihn in eine Rohrleitung und wieder einmal beschleunigt durch das Laufrad einer Pumpe wurde Ha-Ede durch ein sehr schmales Loch gepresst. Er nutzte den Schwung der Entspannung verbunden mit der von oben ihm entgegenkommenden Hitze und machte sich wieder gasförmig davon. Allerdings wurde er an der gleichen Stelle wieder eingefangen und im Handumdrehen landete er wieder in demselben Behälter. Nachdem er die Prozedur zehnmal mitgemacht hatte, schickte der Zufall ihn in eine andere Richtung mit – natürlich – wieder einmal einem Aufenthalt in einem Tank. Aber Ha-Ede hatte inzwischen ja Erfahrungen gesammelt und wusste genau, dass es auch hier irgendwo einen Ausgang geben würde. Also machte er sich sofort auf die Suche danach. Er nutzte die vorhandene Strömung, obwohl die nur sehr klein war, doch sie genügte, um ihn vorwärts zu bringen. Plötzlich glaubte Ha-Ede, wieder Pumpengeräusche zu hören. Er setzte alle Kraft daran um in diese Richtung weiterzukommen. Das war hier besonders schwer, weil diese dummen Hazwei Oxygene ihn so einschlossen, dass er sie alle mitschleppen musste. Doch mit übercehlicher Anstrengung erreichte er den Ausgang, wobei ihm auf dem letzten Stück der Pumpensog behilflich war. ‚Ob sich diese Anstrengung lohnt?’, fragte sich Ha-Ede, doch die Pumpenhektik verhinderte, dass er weiter nachgrübeln konnte. Im Handumdrehen landete er auf dem Boden einer voller Energie steckenden Kolonne, nachdem ihm schon vorher in einem Wärmetauscher warm uns Herz geworden war. Trotz der 165 °C und dem Überdruck von fünf bar oder vielleicht auch gerade deshalb, spürte er, dass es von hier aus vorwärtsgehen würde. ‚Nach einer Endstation sieht es hier jedenfalls nicht aus’, dachte er vergnügt, entspannte sich, doch das war leider zu früh. Ha-Ede sackte vom 8. Boden einen nach dem anderen abwärts bis zum Sumpf. Hier stellte er wieder mit Erschütterung fest, dass die Anzahl der Hazwei Oxygene sich vermehrt hatte und er wusste, dass er wieder einmal in die falsche Richtung gewandert war. Er bäumte sich zu spät auf und wurde aus der Kolonne ausgetragen in einen anderen Behälter hinein, in dem die Konzentration seiner Spezies nur noch 18 % betrug. Das hatte bestimmt nichts Gutes zu bedeuten und Ha-Ede hatte wieder Grund zu schimpfen.

„Verdammt, was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?“ Zu seiner Beruhigung spürte er, dass in diesem Behälter, obwohl er genauso groß war, wie der vorhergehende, die Strömung größer war.

„Gott sei Dank“, brabbelte er weiter vor sich hin, „dann wird die Wartezeit nicht so lang. Hoffentlich komme ich wieder in die heiße Kolonne zurück.“ Doch daraus wurde vorerst nichts, obwohl ihn schon bald eine Pumpe erfasste. Er landete zwar auf dem 10. Boden einer Kolonne, aber die war viel kälter, nur 60 °C, es herrschte kaum Druck. Zum Glück musste er hier nicht selbst über die Richtung entscheiden. Es ging einfach nach unten, rein in den Sumpf und von hier mit dem Schwung einer anderen Pumpe auf den heißen Kopf eines Röhrenwärmetauscher, der Ha-Ede bekannt vorkam, obwohl – nein – oder doch? – Na klar, das hier war wieder diese Abschreckung, die Quenche. Außerdem merkte er bald, dass das Verhältnis Hazwei Oxygen zu Ha Ce-el sich wieder zu seinen Gunsten verbessert hatte. Das stimmte ihn optimistischer, aber er blieb natürlich weiter aufmerksam. Trotzdem landete er vorerst wieder in dem Tank mit 25 % von seiner Sorte. Dieses Mal dauerte es zwei Stunden bis es weiterging. Als er dann in der heißen Kolonne ankam, nutzte er alle Energie, raste nach oben, war schon nach zwei Böden am Kopf angekommen und empfand die Abkühlung im ersten Wärmetauscher als ausgesprochen angenehm, vor allen Dingen, weil er sah, wie sich gleich massenweise die Hazwei Oxygene verabschiedeten. Die nächste Abkühlung war auch für Ha-Ede ein Schock, von dem er sich aber sehr schnell erholte, denn er sah überhaupt keinen der wässrigen Bewacher mehr. Mit dünner, zittriger Stimme rief Ha-Ede: „F-frei, end-endlich f-frei. E-es le-leb-e d-die Frei-frei-hei-heit!“ Er rollte und kullerte durch die Rohrleitung, traf plötzlich mit anderen Ha Ce-els zusammen und spätesten bei der ersten Aufheizung wusste er, dass er in der Oxichlorierung landen würde.

Ha-Ede hatte den Höllenritt überstanden. Der Kreis war geschlossen und ein neues Leben konnte beginnen.

 

– 4 – Ede Ceh Fortsetzung

Teil 4 EDC Rückgewinnung aus dem Abwasser

Erklärung: Keine bemerkenswerten chemischen Reaktionen.

Hauptbestandsteile:

1 Stripper für alkalisches Abwasser mit Sammelbehälter

1 Stripper für saures Abwasser mit Sammelbehälter

Diverse kleinere Apparate und Aggregat

Story:

„Verdammte Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet?“ Ede Ceh sah sich verwirrt um. Eigentlich hatte er das Hazwei Oxygen loswerden wollen, aber nun fand er sich als dessen Gefangener umringt von Tausenden dieser wässrigen Sorte in einem Behälter wieder und hatte keine Ahnung, wie er von hier wieder wegkommen könnte. Zwar beobachtete er wie einige seiner Artgenossen sich von der Umklammerung der Hazwei Oxygene lösen konnten und auf den Boden sanken, aber ihm gelang das nicht. Mit Wehmut sah er, dass die am Boden versammelten Ede Cehs aus dem Behälter verschwanden. Wahrscheinlich kamen sie zurück in den feuchten Bereich, wo sie erneut die Chance hatten sich in der Entwässerungskolonne von den lästigen Hazwei Oxygenen zu trennen und wieder am richtigen Leben der Ede Cehs teilzunehmen.

„Herr Gott noch mal, ich muss etwas unternehmen“, versuchte Ede sich von seinen trübseligen Gedanken zu befreien, aber es war nichts zu machen. Er war und blieb gefangen. Es müsste schon etwas Außergewöhnliches passieren, damit er aus dieser beschissenen Situation herauskommen könnte. Gott sei Dank gehörte Ede Ceh aber zu den Leuten, die nie aufgaben. „Die Hoffnung stirbt nie!“ gehörte zu seinen Standardsprüchen und so verhielt er sich auch. Ceh war also hellwach, als er spürte, dass sich etwas bewegte und tatsächlich, Ede wurde langsam in eine Rohrleitung gezogen. Die Beschleunigung im Laufrad der Pumpe genoss er erleichtert, denn das bedeutete immer Bewegung und Veränderung. Plötzlich wurde es auch wieder wärmer und „wow, was ist das denn?“, landete Ede in einer besonderen Füllkörperschicht. Seine größte Sorge war natürlich sofort, dass er schnell den richtigen Weg finden würde. Nach oben oder nach unten? „Verdammt, woher soll ich das wissen?“, stöhnte Ede. Die Hektik zwischen den Keramikfüllkörpern ließ ihm nicht viel Zeit zum Nachdenken, musste er auch gar nicht, denn die Energie in der Kolonne trieb ihn sofort nach oben. Ede wurde wieder einmal Gas und zu seiner großen Freude war er nach der Kondensation wieder Herr seiner selbst, obwohl immer noch Hazwei Oxygene sich an ihn klammerten. Ede Ceh hatte das gute Gefühl auf dem richtigen Wege zu sein. Und das sollte ihn nicht enttäuschen. Er musste zwar noch durch etliche Töpfe hindurch, aber als er in der Entwässerungskolonne ankam, stürzte er sich in die Tiefe und war endlich das lästige Wasser los. Bis hierin hatte er sich voll konzentriert, damit er ja nicht wieder im Abwassersystem landete. In der dicken Berta hatte er sich allerdings einlullen lassen und war langsam mit anderen in den Sumpf getrudelt. Ede schreckte erst auf, als er plötzlich wieder auf Füllkörper traf. „Verdammt, verdammt, was ist jetzt passiert? Wo bin ich nun hingeraten?“ Ede versuchte die Augen aufzureißen, aber alles um ihn herum war schwarz. Er brauchte Zeit um sich an die Umgebung zu gewöhnen. Dann merkte er, dass es hier viel mehr Verwandte von ihm gab als sonst irgendwo im bisher von ihm durchlaufenen System. Außerdem stellte er fest, dass er hier wieder die Wahl hatte nach oben oder unten zu wandern. Seine betagteren Verwandten wie Trian, Per und die Tetras strebten gemeinsam nach unten. Sollte er mit denen gehen oder war es besser sich der Mehrzahl seiner jüngeren Artgenossen, die nach oben strebten anzuschließen?

Ede war noch hin und her gerissen, als Trian ihn von der Seite anblubberte, „du willst doch wohl nicht in den Sumpf Ede? Da geht es doch zu wie in der Unterwelt und wer weiß, was dabei am Ende herauskommt. Komm lieber mit nach oben.“

„Na gut“, meinte Ede Ceh, „wenn du mir ein bisschen was aus der Unterwelt erzählst?“

„Kein Problem“, antwortete der sofort, „du musst mir nur ein bisschen helfen, über den Kopf der Kolonne zu kommen.“

Daraufhin fasste Ede seinen Verwandten Trian an seinem dritten Ce-el, hielt ihn auch fest, als er sich selbst in Gas umwandelte und so landeten beide wieder als Flüssigkeit im Rückflussbehälter der Kolonne. Sie verpassten den Weg zum Feedtank und wurden erneut in die dicke Berta gepumpt. Das Dumme war jetzt nur, dass Trian den gesamten Weg über erzählt hatte und damit auch jetzt nicht aufhörte. Da Ede total interessiert zuhörte, nahmen beide nicht wahr, dass sie in der dicken Berta wieder nach unten in den Sumpf wanderten. Als sie es merkten, war es schon zu spät.

„Scheiße“, schrie Trian, „jetzt kommen wir wieder in die schwarze Kolonne.“

„Oh je“, stöhnte Ede, „hoffentlich habe ich noch einmal die Kraft nach oben zu entkommen, aber ich befürchte, dass das nichts mehr wird.“ Er drehte sich zu Trian, „dann geht es nun ab zur Hölle?“

„Keine Ahnung“, sagte der zerknirscht, „von da kommt ja keiner mehr zurück.“

Ede schüttelte den Kopf, „ein Teil von uns könnte durchkommen. Das weiß ich von Ha Ce-el aus der Oxichlorierung.“

„Ist ja höchst interessant“, schnaufte Trian hoffnungsvoll, „dann könnten wir dem Ganzen ja gelassen entgegen sehen, was Ede?“

„Auf zur Höllenfahrt!“, riefen beide. Aber sie würden sich noch gedulden müssen, denn zuerst landeten sie natürlich wieder in einem Tank. Hier befanden sich Trian und seinesgleichen in der Überzahl, aber auch Ede Ceh und Kollegen waren zahlreich vertreten. Es wimmelte von mit Ce-el gesättigten Ede Ceh Verwandten. Diese zum Teil sehr gewichtigen Herrschaften: Bankmanager, Immobilienhaie, Toppolitiker fast aller Parteien, die wie die Bekloppten Ce-el gehamstert hatten und dabei auch nicht vor Mord und Totschlag zurückgeschreckt waren, erfanden ständig neue Gründe zum Feiern, was natürlich mit Saufen, Fressen und Bumsen verbunden war. Dabei war es ihnen Scheiß egal, wer oder was ihnen da in die Hände fiel. Bei Ede gerieten sie allerdings an die falsche Adresse. Sie versuchten es auch nur einmal, dann machten sie einen großen Bogen um ihn. Von solchen Verwandten hielt Ede absolut nichts. Er wollte sich lieber allein durchs Leben schlagen. Natürlich goss sich Ede auch mal einen hinter die Binde, aber nur im feuchten Bereich, weil es da so eklig wässrig war. Fressen war ohnehin nicht Edes Ding, das lag ja auch nicht in seiner Natur. Höchstens mal diese komischen Teilchen, die sich Gummi nannten, die wurden im Handumdrehen von Ede aufgelöst. Und gebumst wurde nur als Zwei Ce-el oder Ha Ce-el mit dem Satansweib Ethy Len in Direkt- oder Oxichlorierung. Mit solchen mehr oder weniger fröhlichen Gedanken beschäftigt merkte Ede nicht, wie er wieder vom Sog einer Pumpe erfasst wurde. Erst als ihn das Laufrad herumwirbelte begriff er, dass nun wohl der Höllenritt beginnen musste.

„Scheiße“, schimpfte er vor sich hin, „beinahe hättest du den besten Teil verpennt.“

Doch wie es im Leben halt so ist landete er, trotz des verheißungsvollen Beginns, schon wieder in einem Behälter und musste sich in Geduld üben. Hier stellte Ede auch fest, dass er sich erneut oder immer noch in allerbester Gesellschaft befand.

 

– 2 – Ede Ceh – Fortsetzung

Teil 2 Oxichlorierung

Erklärung:

Die chemische Gleichung für diesen Fall lautet:

2HCl   +  C2H4 (E)  +  ½ O2  —->  C2H4Cl2 (C) +  H2O (W)

Diese Reaktion läuft in der Gasphase in einem Wirbelbettreaktor ab unter Mitwirkung des pulverförmigen Katalysators Kata K. Die frei werdende Wärme wird zur Dampfherstellung verwendet. Weil das C aus der Oxichlorierung Wasser (W) enthält, muss es in der Entwässerungskolonne getrocknet werden, bevor es ebenfalls in die C-Destillation eingespeist, gereinigt und im Tank gelagert werden kann.

Story:

„Verdammte Scheiße, ist das kalt und eng hier“, knurrte Ha Ce-el, der aus der Spaltung kommend gerade im Kopf der HCl-Kolonne ankam. Er fletschte wütend die Zähne. „Da war es gerade noch so herrlich heiß, lustig, feurig und leicht wie in der Hölle gewesen und nun plötzlich diese Kälte, flüssiger Zustand und kaum Bewegung, wie furchtbar.“

Ce-el schüttelte sich angewidert. Er hörte nicht auf zu fluchen. Doch plötzlich gelangte Ce-el an die Oberfläche des Behälters und schwups machte er sich gasförmig davon. Zumindest erst einmal in die nächste Rohrleitung hinein. Da wurde es auch wieder zusehends wärmer und plötzlich tauchten die hellblauen Luftikusse Zwei Oxygen (O2) auf, die man nur selten auch als Eins Oxygen (O) treffen konnte, weil sie scheinbar am liebsten als Paar auftraten. Ce-el dachte noch so bei sich, ‚wozu diese Pärchen wohl taugen könnten? Mir persönlich sind sie jedenfalls wurscht’, als auch schon die leckeren Ethy Lenchen zusammen mit einer Unmenge anderer Gase auftauchten. Da wurde ihm ganz anders zumute und er musste wieder denken, ‚eine Vereinigung mit denen, dafür würde ich sogar mein Ha hergeben’. Das ging schneller, als er denken konnte, denn plötzlich gerieten sie alle in einen, immer auf gleicher Höhe wirbelnden Tanz der staubfeinen Kata Lysatoren vom Typ Kata K, die ihm auch sofort Ha entrissen und dafür sorgten, dass Ce-el sich mit der erstbesten Ethy Len vereinigen konnte, was er trotz der Turbulenzen in vollen Zügen genoss. Dabei wäre ihm fast entgangen, dass Kata K auch die Oxygen Pärchen trennte, sah gerade noch, wie sein Ha zusammen mit einem anderen Ha sich eins der plötzlich selbständigen Eins Oxygene schnappte und völlig verwandelt als Hazwei Oxygen (Wasser) im Gedränge verschwand. Als Letztes bemerkte Ce-el noch, dass auch ihr Kata K, der ihn und sein Ethylenchen zusammengebracht hatte, verschwunden war. Nun war aus Zwei Ce-el und Ethy Len ein Ede Ceh geworden. Ede wurde abgekühlt, gewaschen, von immer noch an ihm klammernden restlichen Ha Ce-els durch Na Oxygen Ha (NaOH – Natronlauge) befreit und kondensiert. Jetzt störte ihn eigentlich nur noch das in ihm befindliche Hazwei Oxygen, das ihn irgendwie aufblähte und er hatte lediglich einen Gedanken: ‚Wie kann ich dieses doofe, sich auch noch Wasser – Whisky wäre mir viel lieber –  nennende Hazwei Oxygen loswerden?’ Doch er musste sich gedulden, denn offensichtlich hatte man ihn in einen Tank abgeschoben. Zwar fand Ede die Ruhe hier nach der ganzen Hektik als angenehm, aber nach einer Stunde war ihm das zu langweilig. Außerdem wollte er endlich den wässrigen Spanner loswerden. Also passte Ede besser auf, merkte, dass am gegenüberliegenden Rand die größte Bewegung war und bemühte sich da hinzukommen.

Plötzlich änderten sich die Strömungsverhältnisse. Ede merkte, dass keine neuen Artgenossen mehr dazukamen, dafür wurde der Sog größer, der ihn hoffentlich von hier wegbringen würde. Trotzdem dauerte es noch fast zwei Stunden bis Schwung in seine Umgebung kam. Auf einmal fuhr er wieder mit einem Pumpenlaufrad Karussell, wurde in eine Rohrleitung gezwängt und „Hoi-joi-joi“, bliesen sie ihm Dampf unter den Arsch, denn da war er schon im Vorwärmer gelandet. Mit 70 °C aufgeladen wurde Ede einfach auf den obersten Boden der Entwässerungskolonne, der sogenannten Feuchten, geschmissen. Beinahe wäre er wieder verdampft.

„Verdammte Scheiße, in die Richtung will ich auf keinen Fall, da ist doch viel zu viel Wasser dabei!“ Ede machte sich dünne und rutschte, bei heftigem Gegenverkehr, ein paar Böden nach unten.

„Diese Richtung müsste stimmen“, sagte er sich, denn Hazwei Oxygen wurde weniger und siehe da, plötzlich waren die lästigen Begleiter ganz verschwunden. Dann kam wieder das Pumpenkarussell. Ede landete in einer Kolonne mit dem schönen Namen leichtes Mädchen. Hier fand das gleiche Theater statt wie in der Feuchten, Gott sei Dank ohne Wasser. Obwohl, ab und zu kam an Ceh doch noch einer der Hazwei Oxygene auf seinem Weg nach unten in entgegengesetzter Richtung vorbei. In dieser Kolonne traf er auch zum ersten Mal die, wie er wenig später erfuhr, aus der DC stammenden, etwas grünlichen Ede Cehs und die satt orangenen, die aus einer noch anderen Ecke kommen mussten.

„Hier zu fragen hat keinen Zweck“, brummte Ede, „es ist viel zu viel Hektik. Bestimmt kommt bald wieder eine Ruhephase,“ und schon rutschte er im Karacho nach unten auf den nächsten Boden. Doch Ede musste auch noch durch die dicke Berta, die so genannte HS-Kolonne, hindurch. Hier ging es wieder einmal nach oben, natürlich wieder mit Geschlechtsumwandlung, ach Quatsch, natürlich wechselte er nur die Phase von Flüssigkeit in Dampf. Kaum schwebte Ede wie ein Vogel durch Bertas Kopf, da traf ihn erneut ein kalter Schock, er wurde wieder Flüssigkeit und landete mit dem Schwung der Rückflusspumpen in einem Tank, der hier wohl ‚Feedtank‘ genannt wurde.

„Nun weißte Bescheid“, beendete Ede Ceh Blue seinen Bericht, „aber hast du schon gehört Ede Green, wo Ede Orange herkommt?“

„Nö, aber fragen wir den doch mal. – He du, Ede Orange, wo kommst du denn her?“ Doch der schwamm hochnäsig an den beiden vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„Donnerwetter“, Ede Green kratzte sich am Ceh, „so möchte ich mal nicht werden.“

„Stimmt“, pflichtete Ede Blue zu, „der muss schlechte Erfahrungen gemacht haben.“

„Aber wo?“

„Keine Ah …“, weiter kam Ede Blue nicht, denn er geriet erneut in einen starken Sog und plötzlich …

 

-1- Ede Ceh

oder

Die Entstehung von EDC (Ethylendichloride, Dichlorethan, C) und seine Weiterverarbeitung zu VC (Vinylchlorid, V) und PVC (Polyvinylchlorid, Plast)

Vorbemerkung:

Max Balladu überarbeitet zurzeit das Buch ‚Die Ede Ceh Story‘, während er gleichzeitig weiter an dem neuen Roman mit dem Titel ‚Tote brachen keinen Himmel‘, arbeitet.

Zur Erinnerung an den ersten Roman aus dem Jahr 2012 werden in den nächsten Wochen Abschnitte in Form von Short Storys auf der Webseite in mehreren Fortsetzungen veröffentlicht.

Die Story:

Teil 1 Direktchlorierung

Die Direktchlorierung (DC) von Chlor (B) mit Ethylen (E) findet drucklos in einem Kreislaufreaktor unter Zusatz des Katalysators Kata F bei circa 100 °C statt.

Das Chlorgas wird durch Elektrolyse von in Wasser gelöstem Kochsalz (NaCl), während Ethylen durch Aufspaltung von Erdöl gebildet wird.

Die chemische Gleichung für die DC lautet:

Cl2(B)   +   C2H4 (E) —->   C2H4Cl2 (C),

Die freiwerdende Wärme wird zur Verdampfung des Zwischenproduktes EDC (C) genutzt, das in Leichtsieder (LS)- und Hochsieder(HS)-Kolonne von Nebenprodukten befreit und im sogenannten Feedtank zwischengelagert wird. Während der Rohstoff Chlor (B) in der Nachbaranlage hergestellt wird, kommt das Ethylen (E) von außerhalb, manchmal auch aus dem Untergrundspeicher, der als Zwischenlager und Puffer dient.

„Frei, endlich frei!“, schrie Ethy Len, das farblose, aber vollbusige Weib mit der Doppelbindung und stürzte sich aus der dunklen Erdhöhle in die Rohrleitung, wohin auch immer sie diese führen würde. Es ging in rasender Geschwindigkeit vorwärts und Ethy jubilierte, denn das war schöner als Karussell fahren. Nach knapp dreißig Minuten traf Len in der C-V-Anlage ein, wurde an der Druck- und Mengenregelung kräftig durchgeschüttelt und sah sich plötzlich dem von ihr geliebten, von anderen gefürchteten Zwei Ce-el gegenüber.

Zwei Ce-el kam direkt von der B-Fabrik, wo er sich wegen des hohen Stromflusses in einer Membranzelle von Na getrennt hatte. Ce-el sah gerade noch, wie Na sich zusammen mit Hazwei Oxygen (H2O, Wasser (W)) als Lauge davonmachte, da wurde er auch schon weitergetrieben, landete in der B-Trocknung und gelangte anschließend unter Druck über eine Leitung in die C-V-Anlage. Dort lärmte der mörderische, ständig zur Aggression neigende Mann mit dem stechenden Geruch übermütig: „Ich will töten, morden, lynchen, vernichten, ersticken, vergiften, reagieren!“ Doch dann verstummte er überrascht, als er auf die auch ihm gewachsene, ein wenig zickige, aber hoch erotische Ethy Len traf. „Mensch, wie kommst du denn hierher Ethy? Das müssen wir doch gleich feiern!“

Die Len zierte sich. „Du weißt genau, Zwei Ce-el, dass ich mich nur mit dir einlasse, wenn Kata F dabei ist.“

„Aber da kommt er ja, der Kata Lysator!“, schrie Ce-el.

Jetzt juchzte auch die Len, „au fein, nun sind wir ja zu drein – dann können wir uns auch verein.“

Ce-el schüttelte den Kopf, „dass die leichteren Fraktionen immer gleich dichten müssen, wenn gezeugt wird, verstehe ich nicht.“

Aber das hinderte ihn nicht daran sich mit Ethy, die natürlich wahnsinnig stöhnte, innig zu umarmen, während Kata sich zwar zwischen sie drängelte, aber dann doch wieder verschwinden musste, als Zwei Ce-el und Ethy Len sich zu Ede Ceh vereinigt hatten. Der starke, verwegene Bursche Ede mit wuscheligen roten Haaren war kaum auf der Welt, da wurde er auch schon mit voller Wucht gegen die Füllkörperschüttung im Reaktor geschleudert. Kaum hatte er sich davon erholt zerrte ihn irgendetwas in eine große Rohrleitung. Dort fuhr er mit dem Laufrad der Kreislaufpumpen Karussell, sah unmittelbar danach bei hoher Geschwindigkeit, wie seine Artgenossen gezeugt wurden und landete wieder an der Füllkörperschicht. Doch das machte ihm nichts mehr aus. Allerdings hatte er nach hundert Mal der gleichen Prozedur die Schnauze voll und drängelte sich etwas weiter nach oben, weil er gesehen hatte, dass von da seine Artgenossen irgendwohin verschwanden. Und richtig, plötzlich wurde er erfasst und im nächsten Moment hatte er das Gefühl, auseinandergerissen zu werden.

„Wow, jetzt kann ich ja sogar fliegen“, rief Ede freudig überrascht aus, flog als Gas weiter und kam trotz des vielen Verkehrs gut durch die Destillationskolonne, aber dann traf ihn die Kälte der Wärmetauscher so stark, dass er zusammenzog und schnell wieder seine ursprüngliche Form annahm. Nach erneuter Hektik in einer Pumpe landete Ede im Feedtank.

„A-a-a, endlich ausruhen, wer weiß schon, was heute noch alles passiert“, murmelte Ede leise vor sich hin und schwamm ruhig, ab und zu nach links und rechts sehend, im Tank umher. Nun hatte er auch Zeit, sich alles etwas genauer zu betrachten. Dabei bemerkte er Artgenossen, die zwar genauso aussahen wie er, aber doch irgendwie anders waren.

‚Wie kam denn das?’, fragte er sich und sagte laut, „he, du, Ede Blue, wo kommst du denn her?“

Der lachte, „das wollte ich dich auch gerade fragen, Ede Green.“

„Direktchlorierung. Und du?“

„Noch nie was von Oxichlorierung gehört?“

„Nee, erzähl doch mal.“

„Na gut, mal sehen, ob ich das alles noch zusammenbringe. Auf alle Fälle trafen sich am Anfang drei: die vollbusige sexy Ethy Len, dazu der aggressive Lustmolch Ha Ce-el und der Luftikus Zwei Oxygen. Natürlich ging es auch bei den Dreien nicht ohne Kata Lysator, der sich hier aber Kata K nannte.“

Der Bohrarbeiter und die Philosophie

Boberow (Mecklenburg), 12. Juni 1964

„Leute, wir müssen die drei beschädigten Meißel an den Straßenrand holen“, schimpfte Bohrmeister Boge, hüpfte wie Rumpelstilzchen um seine drei Bohrarbeiter herum und fügte dann als Erklärung noch hinzu, „in einer halben Stunde kommt der Transport und da sollen – da müssen! – die mit, verdammt!“

Der dreiunddreißigjährige Erwin Schmiedefeld, dünn wie eine Bohnenstange, mindesten einen Meter neunzig groß, drahtig und zäh runzelte seine braun gebrannte Stirn und schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Wieso fährst du die Dinger nicht mit der Planierraupe hierher?“

Der Bohrleiter fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. „Mensch, das hätte ich doch längst gemacht, Erwin, aber die ist kaputt und die Reparatur dauert zu lange. Verdammte Scheiße!“

Der bullige, muskelbepackte, gegenüber Schmiedefeld zwei Köpfe kleinere Fritz Krause brummte, „dann müssen sie eben erst morgen weggebracht werden.“

„Auf keinen Fall!“, regte sich Boge wieder auf, „wir haben keinen Ersatz mehr. Die müssen heute mit, damit sie schnell repariert werden können.“

In die eingetretene Stille hinein fragte Thomas Prost, „wo liegen denn die Meißel?“

Boge zeigte mit der ausgestreckten rechten Hand über eine aufgewühlte Sandwüste zur anderen Seite der Bohranlage schräg vorbei an dem fünfundvierzig Meter hohen Turm. „Das sind mindestens zweihundert Meter.“

„Und“, Prost hob kurz seine Arme an, „wie schwer ist so ein Meißel?“

Während Schmiedefeld und Krause stirnrunzelnd ihren Kurzzeit-Kollegen ansahen, erklärte Boge gleichmütig. „Na ja, der Tiefbohrmeißel mit seinen drei Rollen aus Hartstahl, die in einem Rohr zusammengeführt werden, wird so seine eineinhalb Zentner wiegen.“

Prost überlegte kurz.

„Das sind also fünfundsiebzig Kilogramm. Die bringt ein achtzig Kilogramm schwerer Sportsmann zur Hochstrecke. – Aber – der Weg ist natürlich ganz schön lang.“

Prosts Kollegen Krause und Schmiedefeld brachen in schallendes Gelächter aus, in das Boge mit eintaktete, als er begriffen hatte, was der zukünftige Student der Verfahrenstechnik da gerade von sich gegeben hatte.

Thomas Prost war am 30. 4. 1964, nach zwei Jahren und acht Monaten Dienstzeit, ehrenvoll aus den Reihen der NVA mit dem Dienstgrad Unteroffizier entlassen worden. Sein Studium der Verfahrenstechnik an der TH in Merseburg begann aber erst am 1. September. Deshalb fackelte er nicht lange und sah sich, zur sinnvollen Überbrückung dieser Zeit, nach einer Arbeit um. Als ihm sein Vater von den Erdölbohrarbeiten erzählte, bewarb er sich sofort bei der Firma als Kraftfahrer. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass eine Arbeit als Kraftfahrer nicht möglich wäre, ihm aber ein Job als Bohrarbeiter angeboten werden kann, sagte er sofort zu. Prost liebte schwere Arbeiten, das war schon während seiner Kindheit in einem kleinen altmärkischen Dorf so gewesen. Bei der Armee hatte er sich aus eigenem Antrieb fit gehalten, sonst wäre er dort dick und fett geworden. Prost war deshalb heute immer noch gut in Form und seine Worte keineswegs nur so daher gesprochen. Er wartete geduldig bis seine Kollegen aufgehört hatten zu lachen.

„Erwin, wenn ich mit dem ersten Meißel hundert Meter geschafft habe, kümmerst du dich dann um den Zweiten?“

Schmiedefeld überlegte. Er konnte den schlaksigen Jüngling von Anfang an gut leiden, weil der richtig derb zupacken konnte, einem eher die Arbeit wegnahm, als sie einem zuschob und man konnte kluge Gespräche mit ihm führen. Er verzog das Gesicht zu einem kleinen Lächeln, weil er sich an ihre philosophischen Gespräche der letzten Tage erinnerte. Vor Beginn einer Frühschicht hatte Thomas Prost zu ihm gesagt, „weißt du Erwin wie ungeschickt ich mich am Anfang hier auf dem Bohrturm angestellt habe?“ er drehte den Kopf zu seinem Kollegen, sah dass der ihm aufmerksam zuhörte und fuhr lächelnd fort, „ich habe anfangs zehnmal so viel Kraft gebraucht, als ich das jetzt muss. Damals war ich zum Feierabend total geschafft, jetzt komme ich nicht mal mehr ins Schwitzen,“ wieder sah er seinem Kumpel Erwin in die Augen, aber der lauschte nach wie vor seinen Worten, „jetzt kenne ich alle Handgriffe, benutze sie effektiv, genau mit der richtigen Kraftaufwendung. Ist doch interessant, Erwin? Oder?“

„‘Das Umschlagen von Quantität in Qualität‘,“ antwortete der trocken, so dass Prost verblüfft schwieg.

„Erstes dialektisches Grundgesetz,“ fügte Erwin grinsend hinzu. Schmiedefeld machte dieses Gespräche Spaß. Der Junge hörte einem richtig zu, antwortete kurz, präzise und er besaß Humor. Menschen ohne Humor strengten Erwin zu sehr an. Behauptete er zumindest von sich.

„Na mach’ mal, Thomas,“ sagte Schmiedefeld, „dann sehen wir weiter.“

Sie gingen beide in die vom Bohrleiter gezeigte Richtung. Als Thomas sich zu dem ersten Meißel hinunter beugte, um fürs Tragen den besten Griff zu finden, bemerkte er, dass auch Krause mitgekommen war. Prost griff in die Aushöhlungen, in denen sich die wie Kegelräder geformten Kreisel befanden, hob den Meißel kurz an und setzt ihn wieder ab.

„Na, wohl doch zu schwer, du Angeber?“ Krause grinste breit.

Prost ließ sich nicht stören, griff erneut zu, hob den Meißel jetzt noch ein Stück höher, sodass er genug Bewegungsfreiheit für seine Beine hatte, sein Schoß konnte auf die Art ein wenig beim Tragen helfen.  Der junge Mann watschelte ziemlich zügig  los. Krause sah ihm mit verbissenem Gesicht hinterher, während Erwin lächelte.

Als Schmiedefeld sah, dass sein Freund nicht so schnell schlappmachen würde, beugte er sich zum zweiten Meißel nach unten, hob ihn an und – watschelte – genau wie Prost, nur dass das bei Erwin noch komischer aussah, hinter seinem Kollegen hinterher. Aber komisch oder nicht, das war Erwin egal und außerdem hatten sie ja sowieso nur einen Zuschauer, den Bohrleiter. Der drückte die Fäuste fest zusammen, als könnte er auf diese Art beim Tragen mithelfen. Er hoffte inständig, dass die Männer die Strecke tatsächlich schaffen würden.

Erwin dachte trotz der Anstrengung erneut an das interessante Gespräch mit seinem jungen Freund. Nach Schichtende hatten die beiden ihre Debatte über Dialektik fortgesetzt.

„Woher weißt du das Erwin?“ fragte Prost seinen sympathischen Kollegen.

Schmiedefeld schwieg. Bis zu diesem Gespräch über Philosophie mit Prost, wusste niemand, dass er nach seinem Abi auf der ABF 1953, danach zwei Jahre in Halle an der MLU Philosophie studiert hatte.

„Ich sehe, Thomas, dass du noch andere Fragen auf der Zunge hast. Spuck sie aus.“

„Aber dann klärst du mich auf?“

„Über Sex rede ich auch gerne, obwohl…“

„Wieso Sex?“ stellte Prost sich dumm.

„Rousseau, Diderot und Madam Pompadou. Ja, ja, das 18. Jahrhundert, die Epoche der Aufklärung, war auch sehr interessant.“

„Na gut Herr Professor, hast du auch ein Beispiel für den Kampf und die Einheit der Widersprüche?“

„Du hast es doch selbst schon gesagt. Denk nach.“

„Du meinst,“ Prost zögerte, „du meinst meine Veränderung hier bei Euch?“

„Genau Scholar,“ erneut grinste er, „Bewegung ist die notwendige Triebkraft für Veränderung, Entwicklung. Ein Wesen ist in jedem Augenblick dasselbe und doch ein anderes.“

Erwin ergötzte sich an seinem, aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommenden Kollegen und Freund.

Genau auf der Mitte des Weges ließ Prost den Meißel fallen und streckte sich. Kurz hinter ihm traf Schmiedefeld ein, warf seinen Meißel ebenso in den Sand und schnaufte.

„Du bist eine kaputte Type, Prost, aber“, er zeigte mit der Hand zurück, „du hast Erfolg.“

Tatsächlich hatte sich Krause den dritten Meißel geschnappt und kam nun auf sie zu. Seinen Gang mit dem Meißel konnte man schon fast Laufen nennen. Der bullige Kerl machte das noch besser als die zwei vor ihm.

Krause schmiss seinen Meißel ebenfalls hin und schnauzte, „Prost, du bist ein Arschloch! – Aber stark. – Das hätte ich nicht gedacht.“

Dieses Lob ging Thomas tief unter die Haut, aber er sagte nichts, sondern stellte sich wieder vor seinen Meißel, ging in die Knie, hob das schwere Teil wieder an – ihm war so, als wäre es leichter geworden – und watschelte weiter. Erwin folgte ihm, seinen Gedankengang fortsetzend, auf dem Fuße.

„Hast du etwa auch studiert Erwin?“ Prosts Blick zu Schmiedefeld unterstrich seine Fragestellung. „Warum verheimlichst du das? Und überhaupt, warum arbeitest du dann hier?“

„Ich habe nur zwei Jahre Philosophie an der Uni Halle studiert.“ Schmiedefeld machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist alles.“

„Dann hast du Abitur?“

„ABF, auch in Halle.“

„Warum hast du aufgehört?“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Ja unbedingt.“

„Mann, ich weiß es doch selber nicht.“

Die beiden schwiegen.

„Was ist jetzt mit dem 3. Dialektischen Grundgesetz,“ unterbrach Prost die Stille, „die Negation der Negation?“

„Das ist doch am einfachsten, Thomas.“

„Ich finde das am verworrensten.“

„Du liebst doch Mathe, hast du mir erzählt. Du musst nur richtig nachdenken, dann siehst du, wie einfach das ist.“

Prost grübelte ein zwei Minuten schweigend, bevor er weitersprach. „Ein positive Zahl wird negativ, wenn ich sie mit einer negativen multipliziere. – Ja, ist das die Negation?“

Schmiedefeld schwieg grinsend.

„Oh, ich glaube, jetzt geht mir ein Licht auf, denn wenn ich die negative Zahl nun mit einer weiteren negativen multipliziere, wird das Ergebnis positiv.“ Über Prosts Gesicht lief ein erstauntes, etwas ungläubiges grinsen. „Das ist dann wohl die Negation der Negation Erwin? Minus mal Minus ergibt Plus?“

„Das Verschwinden der alten Qualität, also Negation, ist verbunden mit ihrem Wiederauferstehen, der doppelten Negation, in einer neuen Qualität.“

Als sich Prost mit seinem Meißel dem Straßenrand näherte, fuhr dort der LKW vor und er ließ seinen Meißel dicht am Fahrzeug, zu Boden gleiten. Nur wenig später trafen auch Schmiedefeld und Krause ein, die sich genauso erleichtert von ihrer Last befreiten.

Boge tanzte freudig um die drei herum. „Mensch Leute, das ist ja wunderbar. Damit habt ihr einen Verzug beim Vortrieb der Bohrung verhindert.“

„Quatsch nicht so viel, Boge, rück lieber mit `ner Prämie raus“, brummte Krause und Schmiedefeld fügte grinsend hinzu, „die Idee solltest zu festhalten, Bohrleiter.“

Boge lachte. „Da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Natürlich kriegt ihr eine Prämie. Aber außerdem gibt es ja Bohr-Geld pro Meter Tiefe, und da wir nun nicht in Verzug kommen werden, gibt es auch mehr von dieser Prämie.“

Die Aktion der drei sprach sich schnell unter den Kollegen der anderen Schichten der Bohranlage herum und der angehende Student merkte von diesem Tage an, dass er sich den Respekt der 18 Bohrarbeiter erworben hatte.