Das Huhn Erna aus Kroppenstedt war ein besonderes Tier, denn es konnte über zwanzig Kilometer hinweg mit einer Ampel an der Kreuzung Quedlinburger-Erich Weinertstraße in Halberstadt kommunizieren. Das taten die zwei bereits seit mehreren Monaten in unregelmäßigen Abständen. Die Ampel hatte sich ihr eines Tages als Paul vorgestellt.
Erna döste entspannt im gemütlichen Garten ihrer Lieblingsfamilie Fischer vor sich hin. Gerade hatte sie der Mann des Hauses, in den sie ein bisschen verliebt war, mit ein paar leckeren Körnern verwöhnt, was sie zu wunderbaren Phantasien inspirierte. Urplötzlich wurde Erna durch einen Schrei in ihrem Kopf aus allen Träumen gerissen.
„Aua! – Was war das denn?“
„Was ist passiert Paul?“
„Du glaubst es nicht Erna mein Schatz…“
„…bin nicht dein Schatz,“ unterbrach das Huhn, „gute Freundin, mehr nicht.“
„Schon gut Erna, Freundin, hör lieber zu. Dein Liebster,“ Paul unterdrückte mit Mühe ein Kichern, „hat mein Standbein gerammt. Jetzt steh ich nicht nur schief, sondern mir ist auch noch ganz und gar wirr im Kopf.“
„Was soll das heißen?“ Erna überlegte, ob sie Paul, wegen seines unterdrückten Kicherns, das sie natürlich sehr wohl bemerkt hatte, schon wieder anmaulen sollte, ließ es dann aber bleiben. Stattdessen fragte sie, „war Jimmi mein Liebling schuld?“
„Geduld, Geduld, mir ist zwar noch ein bisschen schummrig, meine drei Augen klappen gerade auf und zu, wie ihnen zumute ist, nichtsdestotrotz werde ich dir gleich alles erzählen. Muß bloß noch mal gucken… ich fasse es nicht, Erna, das glaubst du nicht, weißt du wer Schuld hat?“
„Bin ich der Hahn auf dem Mist?“
„Na ja, sie ist nicht direkt schuld, aber…“
„Nu mach‘s doch nicht so spannend. Wer ist…“
„…deine Konkurrentin Erna.“
„Du spinnst. Du bist ja wirklich nicht ganz klar im Kopp Paul. Obwohl… fast gönn ich ihr das.“
„Sei nicht so gehässig Erna. Eigentlich kann sie nichts dafür, aber eins ihrer Küken ist zurück auf die Straße gerannt, weil es ein Blättchen verloren hatte.“
„Was denn für ein Blättchen?“
„Na so ‘ne kleinen leichten Dinger, Blätter eben, wie ich schon sagte. Stell dich nicht so an Erna.“
„Is ja gut Paul. Claudi ist Lehrerin, sie arbeitet viel mit Blättern. – Und wie gings weiter, mit dem Unfall?“
„Claudi,“ sagte Paul spöttisch, „du nennst sie genauso, wie dein Geliebter sie nennt? – Na mir egal. Also die Kleine rennt zurück, direkt auf den anrollenden Laster zu. Es hätte sie eigentlich erwischen müssen, doch dein Geliebter, scheinbar nicht nur ein guter Fahrer, sondern auch reaktionsschnell – ich sehe förmlich, wie du dich in deine Hühnerbrust schmeißt Erna – denn er bremste und riss gleichzeitig das Steuer herum, was die Kleine rettete, aber mir halt mein schiefes Standbein einbrachte.“
„Manchmal kannst du richtig beleidigend sein Paul. Wirklich. Doch das ist unwichtig. Viel wichtiger ist: Was ist mit meinem Jimmi?“
„Der scheint ebenfalls unverletzt zu sein. Du kannst wieder weiteratmen Erna.“
„Da fällt mir ja ein Stein vom Herzen. Jimmi ist doch ein prachtvoller Mann, Paul. Findest du nicht auch?“
„Der ist doch viel zu… na ja, aber sonst hast du schon recht, Erna.“
„Kann ja nicht jeder so schlank sein wie du.“
„Woher willst du denn wissen, wie schlank ich bin?“
„Genauso wie du weißt, wie ich aussehe. Deine Beschreibungen von dir sind diesbezüglich ziemlich aussagekräftig.“
„Wann habe ich mich denn beschrieben?“
„Mindestens in jedem Gespräch einmal. Und auch wenn ich von diesem Bild Abstriche machen muss, eins steht fest: schlank bist du.“
„Oh! Jetzt kommen die Blauen. Jetzt geht’s deinem Geliebten an den Kragen.“
„Quatsch du Dreiäugiger. Jimmi ist doch unschuldig.“
„Ob die Blauen das auch so sehen Erna?“
„Na klar Paul. Denk lieber mal an Dich. Die werden auf alle Fälle dafür sorgen, dass du wieder in Ordnung kommst.“
„Da kannst du recht haben, Erna, bist scheinbar ein schlaues Köpfchen.“
„Nicht so klug, wie mein Liebling. Genug. Was ist mit dem Mädchen?“
„Unversehrt, sagte ich doch schon.“
„Sonst noch was passiert?“
„Die Blauen haben die ganze Zeit irgendwas aufgeschrieben. Ah! Jetzt scheinen sie fertig zu sein. Sie lassen deinen Jimmi scheinbar weiterfahren, wobei sie ihm sogar behilflich sind, damit er sich reibungslos in den Verkehr einordnen kann. Claudi ist mit ihrer Gruppe bereits verschwunden. – Ich frage mich, was die Blauen hier noch wollen. Die versperren nach wie vor die halbe Straße. Sie warten scheinbar auf irgendwas oder irgendwen?“
„Vielleicht kommt noch ein Spezialist, der sich um dich kümmert?“
„Kein schlechter Gedanke Erna. Es wäre schon schön, wenn ich wieder richtig gucken und schalten könnte.“
Es vergingen ein paar Minuten, Erna schwieg und wartete. Es interessierte sie sehr, ob ihr Freund schnell wieder richtig gesund werden könnte.
„Der Spezialist kommt. He Erna, da steigen gleich zwei Leute aus dem Auto.“
„Hört sich doch gut an Paul. Halt mich auf dem Laufenden.“
„Klar. Die zwei schreiten scheinbar sofort zur Tat. Der eine öffnet die Tür von Schaltschrank. Jetzt steckt der andere seinen Ko….“
„Paul was ist los? … die Verbindung… verflucht, sie ist… sie ist … tot?“
Erna erschrak heftig. Würde sie je wieder mit Paul kommunizieren können?
In der Menschenwelt klang die Darstellung dieses Ereignisses so:
Die Ampel zeigte rot/gelb-grün. Fünfzig Meter davor, bremste der LKW-Fahrer den Zwölftonner leicht ab. Mit knapp 30 Kilometer pro Stunde rollte er auf den Fußgängerüberweg zu. Eine Gruppe sechzehnjähriger Mädchen und Jungen hatten dort gerade die Straße überquert. Die Straße war frei, die Ampel grün, dennoch tippte der Fahrer vorsichtig erneut auf die Bremse. Plötzlich machte eine Schülerin blitzartig kehrt, rannte, trotz roter Ampel, zurück, direkt auf das große Auto zu. Spontan trat der Chauffeur auf die Bremse, riss das Lenkrad nach rechts, touchierte mit der rechten Seite des Fahrerhauses die Ampel. Der LKW stand. Das Mädchen stand unverletzt mit aufgerissenen Augen auf der Straße. Auch der Fahrer schien, unverletzt zu sein. Lediglich die Karosse des Lasters hatte eine Delle bekommen. Am stärksten hatte es wohl die Ampel getroffen.
Der Kraftfahrer stieg nervös aus dem Fahrerhaus aus, ging schnell auf das Mädchen zu, „ist dir etwas passiert?“
„N-nein…“
„Was ist denn los Lina. Warum bist du zurückgerannt?“ Eine hübsche Frau, scheinbar die Leiterin der Gruppe, kam schnell auf die beiden zu, legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens, „ist alles okay…bei dir?“ Dann sah sie zum Fahrer, „was machst du denn hier?“
„Schutzengel?“ Der Fahrer hatte seine Frau längst erkannt, „sieht man das nicht?“
„Blödmann,“ sie winkte ab, wandte sich wieder dem Mädchen zu, „Lina dann komm… bist du wirklich…“
„Ja, ja Frau Fischer… ich hatte nur den Zettel verloren.“
„Was für einen Zettel?“
„Ist geheim,“ warf der Fahrer ein.
„Halt du dich da raus.“ Die Frau führte das Mädchen von der Straße, drehte sich dann plötzlich um, „Bist du auch okay? – Was ist mit deinem Auto?“
Der Gefragte winkte lässig ab. „Ihr müsst ohnehin noch warten… Da,“ der Fahrer zeigte die Straße aufwärts, von wo sich zügig ein Polizeiauto mit Blaulicht näherte, „kommt sie ja schon.“
Der Fahrer hatte, kurz bevor er ausgestiegen war, die Polizei informiert, vorsichtshalber mit Krankenwagen, der aber noch nicht hier angekommen war. Obwohl dem Mädchen nichts passiert war, würden Sanitäter oder Arzt nicht darauf verzichten wollen, sich das Unfallopfer anzusehen, um selbst entscheiden zu können, ob versehrt oder unversehrt.
„Schau doch mal Kevin, wer da auf uns wartet.“ Der Polizeihauptmeister stupste vom Beifahrersitz aus seinen Kollegen, einen Polizeimeister, an den Arm.
„Ist das nicht der…“
„Genau der mit dem ‚sprechenden‘ Huhn.“
Beide Polizisten lachten amüsiert.
„Und sieh mal da,“ der Polizeihauptmeister streckte den rechten Arm aus, „die Ampel, sie schaltet in irgendeinem unregelmäßigen Rhythmus zwischen Grün – Gelb – Rot – Rot/Gelb – Grün hin und her.“
„Zum Glück haben die anderen Autos vorerst angehalten.“
„Die lustige Ampel passt zum sprechenden Huhn.“ Der Polizeimeister tippte sich an die Stirn, „vielleicht kommunizieren die miteinander?“
„Du musst sofort den Verkehr regeln Kevin.“
„Schon gut Franz.“
Amüsiert lachend stiegen die beiden aus. Der eine übernahm sofort die offizielle Sperrung der Unfallstelle, während der Ranghöhere sich zuerst das Mädchen ansah. „Bist du verletzt?“
„Nein, nein,“ antwortete Lina hastig, „ich habe doch selber schuld,“ fuhr sie ruhiger fort, „ich bin, ohne aufzupassen trotz Rot auf dem Überweg zurückgerannt. Außerdem, ich bin gar nicht mit dem Auto in Kontakt gekommen.“
Der Polizist wandte er sich der Lehrerin zu, „Polizeihauptmeister Franz Müller. Frau Fischer, sie sind Augenzeugin?“
„Nicht direkt,“ antwortete die Frau überlegend, „erst als die Bremsen quietschen, habe ich mich umgedreht und sah Lina mitten auf der Straße direkt von dem 12-Tonner stehen, obwohl wir bereits alle auf dem Gehweg angekommen waren.“
„Bitte halten sie sich alle noch zur Verfügung,“ sagte der Polizeihauptmeister, „der NRW wird sicher gleich eintreffen. Der Arzt will sich die Kleine sicher ansehen.“
„Natürlich Herr Wachtmeister.“
Der Polizist nickte der Frau zu, bevor er sich dem Fahrer zuwandte. „Herr Fischer was haben wir denn nun wieder gemacht!“
Der Fahrer schwieg, denn wie eine offizielle Frage klang das nicht.
„Hat der Anblick ihrer Frau sie so geschockt?“ Er grinste, „Spaß beiseite, was ist passiert?“
Der Fahrer schilderte den Vorfall genauso, wie er ihn erlebt hatte.
„Wie groß ist der Schaden am Auto?“
„Nur die Karosserie des Führerhauses ist ein wenig eingedrückt.“
„Na und die Ampel steht schief,“ fügte der Polizeihauptmeister hinzu.
„Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Der Fahrer sah zur Ampel.
„Und die Elektronik ist durcheinandergeraten,“ der Polizist zeigte in Richtung Ampel.
„Tatsächlich. Sieht ja lustig aus.“ Der Fahrer schüttelte lächelnd seinen Kopf.
verfasst von Max Balladu