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– 3 – Ede Ceh Fortsetzung

Teil 3 Spaltung

Erläuterungen:

zur Chemie und Technologie der nächsten Verfahrensstufe der Spaltung. Die Reaktion der Aufspaltung des EDC in VC (V) und HCl erfolgt in einem Röhrenofen in der Gasphase bei circa 25 bar und 500 °C. Die Reaktionsgleichung lautet:

C2H4Cl2 (C)    —->    C2H4Cl (V)   +   HCl

Bei diesem Prozess muss Wärme zugeführt werden. Da sich das C außerdem nur zu 50 % umsetzt, ist eine aus drei Kolonnen bestehende Destillation erforderlich, die das Dreikomponentengemisch in C, V und HCl trennt.

Story:

„Keine Ah …“, weiter kam Ede Blue nicht, denn er geriet zusammen mit Ede Green und Orange in einen starken Sog und plötzlich platzte ihm bald der Schädel.

„Wow, so zusammengepresst wurde ich ja noch nie. Das kann ja heiter werden.“ Doch auch Ede Blue war ein zäher Bursche und durch die Destillationen abgehärtet, sodass er den Schock schnell überwand. Aber es ging erst richtig los, zum Druck kam nun auch noch Wärme, viel Wärme dazu. Erst in zwei Stufen dezent, doch dann bekam Ede Ceh im wahrsten Sinne des Wortes Feuer unterm Arsch und schwups wurde er wieder einmal gasförmig. Doch damit nicht genug, die Wärme wurde immer größer und größer. Ede Blue riss sich zusammen, um nicht aufgespalten zu werden, was offensichtlich jeder zweite seiner Kumpel, auch Greene und Orange freiwillig taten. ‚Freiwillig?’, dachte Ede Blue, ‚auf gar keinen Fall!’ und er strengte sich gewaltig an, seine Einzelteile zusammenzuhalten. Allerdings konnte er beobachten, wie aus einem gespaltenen Ede Ceh je ein Ha Ce-el und ein Vau Ceh entstand. Ede Blue aber schaffte es durch das verhältnismäßig dünne, zum Ende hin immer heißer werdende Rohr, ungeschoren hindurch zukommen, um dann plötzlich so brutal abgekühlt zu werden, dass er sich sofort wieder verflüssigte. Ehe Ede sich besinnen konnte, traf ihn erneut das Schaufelrad einer Pumpe, er landete in einer Destillationskolonne und bewegte sich sofort nach unten. ‚Verdammt’, dachte er, ‚hier sind ja nur noch Cehs von der anderen Sorte’, aber die Ha Ce-els waren beinahe alle verschwunden. Es gab keine Zeit zur Besinnung, sofort ging es weiter in die nächste Kolonne, in der es zur Abwechselung mal wieer aufwärts ging, doch auch hier dauerte der Aufenthalt nicht lange und Ede Blue landete in der dicken Berta. Als ihn da seine Artgenossen der Sorte Green und Blue aufmerksam mit fragendem Lächeln musterten, wusste er, dass er wohl seine Farbe gewechselt haben musste und nun Orange geworden war. Den Weg durch die dicke Berta kannte er ja schon, aber das gefiel ihm gar nicht mehr, noch einmal sollte ihm das nicht passieren. ‚Jetzt weiß ich auch, warum die anderen sich haben spalten lassen, verdammt. Und warum der Ede Orange so gnatzig war. Ob ich den alten Ede Green im Feedtank wiedertreffe?’ Diese Frage würde er in kurzer Zeit beantworten können, denn schon war er am Kopf der Kolonne als Gas angekommen, wurde gleich danach wieder Flüssigkeit und getrieben vom Kreiselrad der Rückflusspumpen landete Ede Blue – inzwischen Orange – im Feedtank. Sofort umgab ihn angenehme Ruhe. Ede Orange – alias Blue – streckte und entspannte sich. Er hielt Ausschau nach Ede Green, dem sollte nicht dasselbe wie ihm passieren. ‚Eigentlich könnte das doch alle interessieren’, dachte Ede Orange, ‚sowohl Green als auch Blue.’ Also fuhr er laut fort, „hört mal zu Freunde in grün und blau. Wenn ihr von hier weg und nicht wieder zurückkommen wollt, dann zögert nicht euch auf eurem bevorstehenden Weg, spalten zu lassen. Da könnt ihr wählen zwischen Ha Ce-el und Vau Ceh. Wer sich wehrt, landet wieder hier als Ede Orange. So, nun wisst ihr Bescheid. Ich mache mich wieder vom Acker. Ich werde jetzt Vau Ceh – und tschüss.“ Sprach’s und ward nie mehr als Ede Ceh gesehen, denn in dem schmalen, glühend heißen Rohr wurde er tatsächlich Vau Ceh. Das fühlte sich auch nicht schlecht an, obwohl er eine innere Spannung spürte, die ihn ständig animierte, sich für irgendeine Veränderung bereitzuhalten. Es war dem Mann als Rest Ede im Vau Ceh so, als ob die Frau Ethy wieder stärker in ihm zum Zuge kam. Das war natürlich Scheiße, denn als Ede konnte er den Weibern aus dem Weg gehen, jetzt im Vau Ceh schleppte er sie immer mit sich herum. Na ja, es hatte auch seine guten Seiten. Er brauchte sich nun nicht mehr selbst befriedigen. Als Gas überstand Vau Ceh auch den Kälteschock in der Quenche und verließ diese immer noch als Gas. Auch den ersten Wasserwärmetauscher passierte Vau Ceh ungeschoren, obwohl ihm als Gas schon ganz schön kühl geworden war. Doch dann wurde es so eisig, dass auch Vau Ceh flüssig wurde und in einem Behälter landete. Die meisten von den mit ihm in diesem Topf angekommenen Ha Ce-els verabschiedeten sich gleich wieder aus der Flüssigkeit und verließen als Gas nach oben hin den Behälter in Richtung HCl-Kolonne, während Vau Ceh über eine andere Rohrleitung auch dort, aber ein paar Böden tiefer, landete. Hier zog es ihn auch gleich weiter abwärts, wo er nach kurzer Zeit seine alten Kumpel, inzwischen alle schon zu Ede Orange mutiert, wiedertraf. Natürlich erkannten sie ihn nicht mehr, aber Vau Cehs weiblicher Tatsch zog ihre Blicke an. Manche Edes versuchten ihn zu begrabbeln, aber die Turbulenz auf den Böden ließ Gott sei Dank ein längeres Verweilen nicht zu. Im Handumdrehen waren Ede Ceh und Vau Ceh im Sumpf angekommen, strömten sofort in die nächste Kolonne und hier trennten sich ihre Wege, sodass Vau wieder seine Ruhe hatte, obwohl auch noch einige Ha Ce-el hier mit herumgondelten. Allerdings interessierten die sich kaum für Vau Ceh. Die waren wohl mehr auf Aggression aus, denn Vau sah, wie die Ce-els immer wieder versuchten, sich in das Material der Böden oder gar der Wandung der Kolonne hineinzufressen. Meistens gelang ihnen das nicht, sie blitzten einfach von dem Metall ab. Aber einmal beobachtete Vau, wie ein Ha Ce-el zusammen mit Hazwei Oxygen und Zwei Oxygen, wo auch immer die hergekommen waren, eine Kerbe in die Wandung eines Bodens fraß. Dabei bildete sich Eisenzweichlorid und etwas tiefer in der Kolonne bei höherer Temperatur Eisenoxid. ‚Typisch Ha Ce-el’, dachte Vau, der von diesem aggressiven Verhalten schon vorher gehört hatte. Er wunderte sich also nicht, als er nach dem langen Weg durch die große Kolonne noch in eine andere, einen sogenannten Stripper, befördert wurde. Hier musste Vau wieder aufpassen, dass er nicht mit nach oben gerissen und dadurch wieder in die HCl-Kolonne zurücktransportiert wurde. Einmal passierte ihm das, doch beim zweiten Mal war er aufmerksamer und gelangte gleich in den Sumpf des Strippers, in dem er keine Ha Ce-els mehr erkennen konnte. Ohne lange zu verweilen, ging es weiter durch eine, wie es Vau schien, sehr lange Leitung und plötzlich kam er in einen riesigen Raum. Erst später merkte er, dass die Wände hier kugelförmig gebogen waren und noch etwas fiel ihm auf: Einige seiner Artgenossen, wenn auch sehr, sehr wenige, drängten sich ständig aneinander. Vau spürte, dass dieser Drang auch in ihm, allerdings minimal, vorhanden war. ‚Donnerwetter’, dachte Vau, ‚jetzt kleben die zwei ja total zusammen.’ Und er beobachtete auch, wie noch ein anderer Vau dazu kam und noch einer, bis sie alle zusammen eine kleine Kette gebildet hatten. Das Gebilde sah jetzt aus, wie glasklares Gelee und sank langsam nach unten auf den Boden. Als Vau viel später wieder einmal am Boden vorbeikam, fiel ihm der weiße Staub auf. Doch da wusste er noch nicht, dass das Poly Vau Ceh (PVC – PLAST) darstellte und seine Zukunft sein würde, allerdings erst im großen Reaktor in der nächsten Fabrik.

 

– 2 – Ede Ceh – Fortsetzung

Teil 2 Oxichlorierung

Erklärung:

Die chemische Gleichung für diesen Fall lautet:

2HCl   +  C2H4 (E)  +  ½ O2  —->  C2H4Cl2 (C) +  H2O (W)

Diese Reaktion läuft in der Gasphase in einem Wirbelbettreaktor ab unter Mitwirkung des pulverförmigen Katalysators Kata K. Die frei werdende Wärme wird zur Dampfherstellung verwendet. Weil das C aus der Oxichlorierung Wasser (W) enthält, muss es in der Entwässerungskolonne getrocknet werden, bevor es ebenfalls in die C-Destillation eingespeist, gereinigt und im Tank gelagert werden kann.

Story:

„Verdammte Scheiße, ist das kalt und eng hier“, knurrte Ha Ce-el, der aus der Spaltung kommend gerade im Kopf der HCl-Kolonne ankam. Er fletschte wütend die Zähne. „Da war es gerade noch so herrlich heiß, lustig, feurig und leicht wie in der Hölle gewesen und nun plötzlich diese Kälte, flüssiger Zustand und kaum Bewegung, wie furchtbar.“

Ce-el schüttelte sich angewidert. Er hörte nicht auf zu fluchen. Doch plötzlich gelangte Ce-el an die Oberfläche des Behälters und schwups machte er sich gasförmig davon. Zumindest erst einmal in die nächste Rohrleitung hinein. Da wurde es auch wieder zusehends wärmer und plötzlich tauchten die hellblauen Luftikusse Zwei Oxygen (O2) auf, die man nur selten auch als Eins Oxygen (O) treffen konnte, weil sie scheinbar am liebsten als Paar auftraten. Ce-el dachte noch so bei sich, ‚wozu diese Pärchen wohl taugen könnten? Mir persönlich sind sie jedenfalls wurscht’, als auch schon die leckeren Ethy Lenchen zusammen mit einer Unmenge anderer Gase auftauchten. Da wurde ihm ganz anders zumute und er musste wieder denken, ‚eine Vereinigung mit denen, dafür würde ich sogar mein Ha hergeben’. Das ging schneller, als er denken konnte, denn plötzlich gerieten sie alle in einen, immer auf gleicher Höhe wirbelnden Tanz der staubfeinen Kata Lysatoren vom Typ Kata K, die ihm auch sofort Ha entrissen und dafür sorgten, dass Ce-el sich mit der erstbesten Ethy Len vereinigen konnte, was er trotz der Turbulenzen in vollen Zügen genoss. Dabei wäre ihm fast entgangen, dass Kata K auch die Oxygen Pärchen trennte, sah gerade noch, wie sein Ha zusammen mit einem anderen Ha sich eins der plötzlich selbständigen Eins Oxygene schnappte und völlig verwandelt als Hazwei Oxygen (Wasser) im Gedränge verschwand. Als Letztes bemerkte Ce-el noch, dass auch ihr Kata K, der ihn und sein Ethylenchen zusammengebracht hatte, verschwunden war. Nun war aus Zwei Ce-el und Ethy Len ein Ede Ceh geworden. Ede wurde abgekühlt, gewaschen, von immer noch an ihm klammernden restlichen Ha Ce-els durch Na Oxygen Ha (NaOH – Natronlauge) befreit und kondensiert. Jetzt störte ihn eigentlich nur noch das in ihm befindliche Hazwei Oxygen, das ihn irgendwie aufblähte und er hatte lediglich einen Gedanken: ‚Wie kann ich dieses doofe, sich auch noch Wasser – Whisky wäre mir viel lieber –  nennende Hazwei Oxygen loswerden?’ Doch er musste sich gedulden, denn offensichtlich hatte man ihn in einen Tank abgeschoben. Zwar fand Ede die Ruhe hier nach der ganzen Hektik als angenehm, aber nach einer Stunde war ihm das zu langweilig. Außerdem wollte er endlich den wässrigen Spanner loswerden. Also passte Ede besser auf, merkte, dass am gegenüberliegenden Rand die größte Bewegung war und bemühte sich da hinzukommen.

Plötzlich änderten sich die Strömungsverhältnisse. Ede merkte, dass keine neuen Artgenossen mehr dazukamen, dafür wurde der Sog größer, der ihn hoffentlich von hier wegbringen würde. Trotzdem dauerte es noch fast zwei Stunden bis Schwung in seine Umgebung kam. Auf einmal fuhr er wieder mit einem Pumpenlaufrad Karussell, wurde in eine Rohrleitung gezwängt und „Hoi-joi-joi“, bliesen sie ihm Dampf unter den Arsch, denn da war er schon im Vorwärmer gelandet. Mit 70 °C aufgeladen wurde Ede einfach auf den obersten Boden der Entwässerungskolonne, der sogenannten Feuchten, geschmissen. Beinahe wäre er wieder verdampft.

„Verdammte Scheiße, in die Richtung will ich auf keinen Fall, da ist doch viel zu viel Wasser dabei!“ Ede machte sich dünne und rutschte, bei heftigem Gegenverkehr, ein paar Böden nach unten.

„Diese Richtung müsste stimmen“, sagte er sich, denn Hazwei Oxygen wurde weniger und siehe da, plötzlich waren die lästigen Begleiter ganz verschwunden. Dann kam wieder das Pumpenkarussell. Ede landete in einer Kolonne mit dem schönen Namen leichtes Mädchen. Hier fand das gleiche Theater statt wie in der Feuchten, Gott sei Dank ohne Wasser. Obwohl, ab und zu kam an Ceh doch noch einer der Hazwei Oxygene auf seinem Weg nach unten in entgegengesetzter Richtung vorbei. In dieser Kolonne traf er auch zum ersten Mal die, wie er wenig später erfuhr, aus der DC stammenden, etwas grünlichen Ede Cehs und die satt orangenen, die aus einer noch anderen Ecke kommen mussten.

„Hier zu fragen hat keinen Zweck“, brummte Ede, „es ist viel zu viel Hektik. Bestimmt kommt bald wieder eine Ruhephase,“ und schon rutschte er im Karacho nach unten auf den nächsten Boden. Doch Ede musste auch noch durch die dicke Berta, die so genannte HS-Kolonne, hindurch. Hier ging es wieder einmal nach oben, natürlich wieder mit Geschlechtsumwandlung, ach Quatsch, natürlich wechselte er nur die Phase von Flüssigkeit in Dampf. Kaum schwebte Ede wie ein Vogel durch Bertas Kopf, da traf ihn erneut ein kalter Schock, er wurde wieder Flüssigkeit und landete mit dem Schwung der Rückflusspumpen in einem Tank, der hier wohl ‚Feedtank‘ genannt wurde.

„Nun weißte Bescheid“, beendete Ede Ceh Blue seinen Bericht, „aber hast du schon gehört Ede Green, wo Ede Orange herkommt?“

„Nö, aber fragen wir den doch mal. – He du, Ede Orange, wo kommst du denn her?“ Doch der schwamm hochnäsig an den beiden vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„Donnerwetter“, Ede Green kratzte sich am Ceh, „so möchte ich mal nicht werden.“

„Stimmt“, pflichtete Ede Blue zu, „der muss schlechte Erfahrungen gemacht haben.“

„Aber wo?“

„Keine Ah …“, weiter kam Ede Blue nicht, denn er geriet erneut in einen starken Sog und plötzlich …

 

-1- Ede Ceh

oder

Die Entstehung von EDC (Ethylendichloride, Dichlorethan, C) und seine Weiterverarbeitung zu VC (Vinylchlorid, V) und PVC (Polyvinylchlorid, Plast)

Vorbemerkung:

Max Balladu überarbeitet zurzeit das Buch ‚Die Ede Ceh Story‘, während er gleichzeitig weiter an dem neuen Roman mit dem Titel ‚Tote brachen keinen Himmel‘, arbeitet.

Zur Erinnerung an den ersten Roman aus dem Jahr 2012 werden in den nächsten Wochen Abschnitte in Form von Short Storys auf der Webseite in mehreren Fortsetzungen veröffentlicht.

Die Story:

Teil 1 Direktchlorierung

Die Direktchlorierung (DC) von Chlor (B) mit Ethylen (E) findet drucklos in einem Kreislaufreaktor unter Zusatz des Katalysators Kata F bei circa 100 °C statt.

Das Chlorgas wird durch Elektrolyse von in Wasser gelöstem Kochsalz (NaCl), während Ethylen durch Aufspaltung von Erdöl gebildet wird.

Die chemische Gleichung für die DC lautet:

Cl2(B)   +   C2H4 (E) —->   C2H4Cl2 (C),

Die freiwerdende Wärme wird zur Verdampfung des Zwischenproduktes EDC (C) genutzt, das in Leichtsieder (LS)- und Hochsieder(HS)-Kolonne von Nebenprodukten befreit und im sogenannten Feedtank zwischengelagert wird. Während der Rohstoff Chlor (B) in der Nachbaranlage hergestellt wird, kommt das Ethylen (E) von außerhalb, manchmal auch aus dem Untergrundspeicher, der als Zwischenlager und Puffer dient.

„Frei, endlich frei!“, schrie Ethy Len, das farblose, aber vollbusige Weib mit der Doppelbindung und stürzte sich aus der dunklen Erdhöhle in die Rohrleitung, wohin auch immer sie diese führen würde. Es ging in rasender Geschwindigkeit vorwärts und Ethy jubilierte, denn das war schöner als Karussell fahren. Nach knapp dreißig Minuten traf Len in der C-V-Anlage ein, wurde an der Druck- und Mengenregelung kräftig durchgeschüttelt und sah sich plötzlich dem von ihr geliebten, von anderen gefürchteten Zwei Ce-el gegenüber.

Zwei Ce-el kam direkt von der B-Fabrik, wo er sich wegen des hohen Stromflusses in einer Membranzelle von Na getrennt hatte. Ce-el sah gerade noch, wie Na sich zusammen mit Hazwei Oxygen (H2O, Wasser (W)) als Lauge davonmachte, da wurde er auch schon weitergetrieben, landete in der B-Trocknung und gelangte anschließend unter Druck über eine Leitung in die C-V-Anlage. Dort lärmte der mörderische, ständig zur Aggression neigende Mann mit dem stechenden Geruch übermütig: „Ich will töten, morden, lynchen, vernichten, ersticken, vergiften, reagieren!“ Doch dann verstummte er überrascht, als er auf die auch ihm gewachsene, ein wenig zickige, aber hoch erotische Ethy Len traf. „Mensch, wie kommst du denn hierher Ethy? Das müssen wir doch gleich feiern!“

Die Len zierte sich. „Du weißt genau, Zwei Ce-el, dass ich mich nur mit dir einlasse, wenn Kata F dabei ist.“

„Aber da kommt er ja, der Kata Lysator!“, schrie Ce-el.

Jetzt juchzte auch die Len, „au fein, nun sind wir ja zu drein – dann können wir uns auch verein.“

Ce-el schüttelte den Kopf, „dass die leichteren Fraktionen immer gleich dichten müssen, wenn gezeugt wird, verstehe ich nicht.“

Aber das hinderte ihn nicht daran sich mit Ethy, die natürlich wahnsinnig stöhnte, innig zu umarmen, während Kata sich zwar zwischen sie drängelte, aber dann doch wieder verschwinden musste, als Zwei Ce-el und Ethy Len sich zu Ede Ceh vereinigt hatten. Der starke, verwegene Bursche Ede mit wuscheligen roten Haaren war kaum auf der Welt, da wurde er auch schon mit voller Wucht gegen die Füllkörperschüttung im Reaktor geschleudert. Kaum hatte er sich davon erholt zerrte ihn irgendetwas in eine große Rohrleitung. Dort fuhr er mit dem Laufrad der Kreislaufpumpen Karussell, sah unmittelbar danach bei hoher Geschwindigkeit, wie seine Artgenossen gezeugt wurden und landete wieder an der Füllkörperschicht. Doch das machte ihm nichts mehr aus. Allerdings hatte er nach hundert Mal der gleichen Prozedur die Schnauze voll und drängelte sich etwas weiter nach oben, weil er gesehen hatte, dass von da seine Artgenossen irgendwohin verschwanden. Und richtig, plötzlich wurde er erfasst und im nächsten Moment hatte er das Gefühl, auseinandergerissen zu werden.

„Wow, jetzt kann ich ja sogar fliegen“, rief Ede freudig überrascht aus, flog als Gas weiter und kam trotz des vielen Verkehrs gut durch die Destillationskolonne, aber dann traf ihn die Kälte der Wärmetauscher so stark, dass er zusammenzog und schnell wieder seine ursprüngliche Form annahm. Nach erneuter Hektik in einer Pumpe landete Ede im Feedtank.

„A-a-a, endlich ausruhen, wer weiß schon, was heute noch alles passiert“, murmelte Ede leise vor sich hin und schwamm ruhig, ab und zu nach links und rechts sehend, im Tank umher. Nun hatte er auch Zeit, sich alles etwas genauer zu betrachten. Dabei bemerkte er Artgenossen, die zwar genauso aussahen wie er, aber doch irgendwie anders waren.

‚Wie kam denn das?’, fragte er sich und sagte laut, „he, du, Ede Blue, wo kommst du denn her?“

Der lachte, „das wollte ich dich auch gerade fragen, Ede Green.“

„Direktchlorierung. Und du?“

„Noch nie was von Oxichlorierung gehört?“

„Nee, erzähl doch mal.“

„Na gut, mal sehen, ob ich das alles noch zusammenbringe. Auf alle Fälle trafen sich am Anfang drei: die vollbusige sexy Ethy Len, dazu der aggressive Lustmolch Ha Ce-el und der Luftikus Zwei Oxygen. Natürlich ging es auch bei den Dreien nicht ohne Kata Lysator, der sich hier aber Kata K nannte.“

Der Bohrarbeiter und die Philosophie

Boberow (Mecklenburg), 12. Juni 1964

„Leute, wir müssen die drei beschädigten Meißel an den Straßenrand holen“, schimpfte Bohrmeister Boge, hüpfte wie Rumpelstilzchen um seine drei Bohrarbeiter herum und fügte dann als Erklärung noch hinzu, „in einer halben Stunde kommt der Transport und da sollen – da müssen! – die mit, verdammt!“

Der dreiunddreißigjährige Erwin Schmiedefeld, dünn wie eine Bohnenstange, mindesten einen Meter neunzig groß, drahtig und zäh runzelte seine braun gebrannte Stirn und schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Wieso fährst du die Dinger nicht mit der Planierraupe hierher?“

Der Bohrleiter fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. „Mensch, das hätte ich doch längst gemacht, Erwin, aber die ist kaputt und die Reparatur dauert zu lange. Verdammte Scheiße!“

Der bullige, muskelbepackte, gegenüber Schmiedefeld zwei Köpfe kleinere Fritz Krause brummte, „dann müssen sie eben erst morgen weggebracht werden.“

„Auf keinen Fall!“, regte sich Boge wieder auf, „wir haben keinen Ersatz mehr. Die müssen heute mit, damit sie schnell repariert werden können.“

In die eingetretene Stille hinein fragte Thomas Prost, „wo liegen denn die Meißel?“

Boge zeigte mit der ausgestreckten rechten Hand über eine aufgewühlte Sandwüste zur anderen Seite der Bohranlage schräg vorbei an dem fünfundvierzig Meter hohen Turm. „Das sind mindestens zweihundert Meter.“

„Und“, Prost hob kurz seine Arme an, „wie schwer ist so ein Meißel?“

Während Schmiedefeld und Krause stirnrunzelnd ihren Kurzzeit-Kollegen ansahen, erklärte Boge gleichmütig. „Na ja, der Tiefbohrmeißel mit seinen drei Rollen aus Hartstahl, die in einem Rohr zusammengeführt werden, wird so seine eineinhalb Zentner wiegen.“

Prost überlegte kurz.

„Das sind also fünfundsiebzig Kilogramm. Die bringt ein achtzig Kilogramm schwerer Sportsmann zur Hochstrecke. – Aber – der Weg ist natürlich ganz schön lang.“

Prosts Kollegen Krause und Schmiedefeld brachen in schallendes Gelächter aus, in das Boge mit eintaktete, als er begriffen hatte, was der zukünftige Student der Verfahrenstechnik da gerade von sich gegeben hatte.

Thomas Prost war am 30. 4. 1964, nach zwei Jahren und acht Monaten Dienstzeit, ehrenvoll aus den Reihen der NVA mit dem Dienstgrad Unteroffizier entlassen worden. Sein Studium der Verfahrenstechnik an der TH in Merseburg begann aber erst am 1. September. Deshalb fackelte er nicht lange und sah sich, zur sinnvollen Überbrückung dieser Zeit, nach einer Arbeit um. Als ihm sein Vater von den Erdölbohrarbeiten erzählte, bewarb er sich sofort bei der Firma als Kraftfahrer. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass eine Arbeit als Kraftfahrer nicht möglich wäre, ihm aber ein Job als Bohrarbeiter angeboten werden kann, sagte er sofort zu. Prost liebte schwere Arbeiten, das war schon während seiner Kindheit in einem kleinen altmärkischen Dorf so gewesen. Bei der Armee hatte er sich aus eigenem Antrieb fit gehalten, sonst wäre er dort dick und fett geworden. Prost war deshalb heute immer noch gut in Form und seine Worte keineswegs nur so daher gesprochen. Er wartete geduldig bis seine Kollegen aufgehört hatten zu lachen.

„Erwin, wenn ich mit dem ersten Meißel hundert Meter geschafft habe, kümmerst du dich dann um den Zweiten?“

Schmiedefeld überlegte. Er konnte den schlaksigen Jüngling von Anfang an gut leiden, weil der richtig derb zupacken konnte, einem eher die Arbeit wegnahm, als sie einem zuschob und man konnte kluge Gespräche mit ihm führen. Er verzog das Gesicht zu einem kleinen Lächeln, weil er sich an ihre philosophischen Gespräche der letzten Tage erinnerte. Vor Beginn einer Frühschicht hatte Thomas Prost zu ihm gesagt, „weißt du Erwin wie ungeschickt ich mich am Anfang hier auf dem Bohrturm angestellt habe?“ er drehte den Kopf zu seinem Kollegen, sah dass der ihm aufmerksam zuhörte und fuhr lächelnd fort, „ich habe anfangs zehnmal so viel Kraft gebraucht, als ich das jetzt muss. Damals war ich zum Feierabend total geschafft, jetzt komme ich nicht mal mehr ins Schwitzen,“ wieder sah er seinem Kumpel Erwin in die Augen, aber der lauschte nach wie vor seinen Worten, „jetzt kenne ich alle Handgriffe, benutze sie effektiv, genau mit der richtigen Kraftaufwendung. Ist doch interessant, Erwin? Oder?“

„‘Das Umschlagen von Quantität in Qualität‘,“ antwortete der trocken, so dass Prost verblüfft schwieg.

„Erstes dialektisches Grundgesetz,“ fügte Erwin grinsend hinzu. Schmiedefeld machte dieses Gespräche Spaß. Der Junge hörte einem richtig zu, antwortete kurz, präzise und er besaß Humor. Menschen ohne Humor strengten Erwin zu sehr an. Behauptete er zumindest von sich.

„Na mach’ mal, Thomas,“ sagte Schmiedefeld, „dann sehen wir weiter.“

Sie gingen beide in die vom Bohrleiter gezeigte Richtung. Als Thomas sich zu dem ersten Meißel hinunter beugte, um fürs Tragen den besten Griff zu finden, bemerkte er, dass auch Krause mitgekommen war. Prost griff in die Aushöhlungen, in denen sich die wie Kegelräder geformten Kreisel befanden, hob den Meißel kurz an und setzt ihn wieder ab.

„Na, wohl doch zu schwer, du Angeber?“ Krause grinste breit.

Prost ließ sich nicht stören, griff erneut zu, hob den Meißel jetzt noch ein Stück höher, sodass er genug Bewegungsfreiheit für seine Beine hatte, sein Schoß konnte auf die Art ein wenig beim Tragen helfen.  Der junge Mann watschelte ziemlich zügig  los. Krause sah ihm mit verbissenem Gesicht hinterher, während Erwin lächelte.

Als Schmiedefeld sah, dass sein Freund nicht so schnell schlappmachen würde, beugte er sich zum zweiten Meißel nach unten, hob ihn an und – watschelte – genau wie Prost, nur dass das bei Erwin noch komischer aussah, hinter seinem Kollegen hinterher. Aber komisch oder nicht, das war Erwin egal und außerdem hatten sie ja sowieso nur einen Zuschauer, den Bohrleiter. Der drückte die Fäuste fest zusammen, als könnte er auf diese Art beim Tragen mithelfen. Er hoffte inständig, dass die Männer die Strecke tatsächlich schaffen würden.

Erwin dachte trotz der Anstrengung erneut an das interessante Gespräch mit seinem jungen Freund. Nach Schichtende hatten die beiden ihre Debatte über Dialektik fortgesetzt.

„Woher weißt du das Erwin?“ fragte Prost seinen sympathischen Kollegen.

Schmiedefeld schwieg. Bis zu diesem Gespräch über Philosophie mit Prost, wusste niemand, dass er nach seinem Abi auf der ABF 1953, danach zwei Jahre in Halle an der MLU Philosophie studiert hatte.

„Ich sehe, Thomas, dass du noch andere Fragen auf der Zunge hast. Spuck sie aus.“

„Aber dann klärst du mich auf?“

„Über Sex rede ich auch gerne, obwohl…“

„Wieso Sex?“ stellte Prost sich dumm.

„Rousseau, Diderot und Madam Pompadou. Ja, ja, das 18. Jahrhundert, die Epoche der Aufklärung, war auch sehr interessant.“

„Na gut Herr Professor, hast du auch ein Beispiel für den Kampf und die Einheit der Widersprüche?“

„Du hast es doch selbst schon gesagt. Denk nach.“

„Du meinst,“ Prost zögerte, „du meinst meine Veränderung hier bei Euch?“

„Genau Scholar,“ erneut grinste er, „Bewegung ist die notwendige Triebkraft für Veränderung, Entwicklung. Ein Wesen ist in jedem Augenblick dasselbe und doch ein anderes.“

Erwin ergötzte sich an seinem, aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommenden Kollegen und Freund.

Genau auf der Mitte des Weges ließ Prost den Meißel fallen und streckte sich. Kurz hinter ihm traf Schmiedefeld ein, warf seinen Meißel ebenso in den Sand und schnaufte.

„Du bist eine kaputte Type, Prost, aber“, er zeigte mit der Hand zurück, „du hast Erfolg.“

Tatsächlich hatte sich Krause den dritten Meißel geschnappt und kam nun auf sie zu. Seinen Gang mit dem Meißel konnte man schon fast Laufen nennen. Der bullige Kerl machte das noch besser als die zwei vor ihm.

Krause schmiss seinen Meißel ebenfalls hin und schnauzte, „Prost, du bist ein Arschloch! – Aber stark. – Das hätte ich nicht gedacht.“

Dieses Lob ging Thomas tief unter die Haut, aber er sagte nichts, sondern stellte sich wieder vor seinen Meißel, ging in die Knie, hob das schwere Teil wieder an – ihm war so, als wäre es leichter geworden – und watschelte weiter. Erwin folgte ihm, seinen Gedankengang fortsetzend, auf dem Fuße.

„Hast du etwa auch studiert Erwin?“ Prosts Blick zu Schmiedefeld unterstrich seine Fragestellung. „Warum verheimlichst du das? Und überhaupt, warum arbeitest du dann hier?“

„Ich habe nur zwei Jahre Philosophie an der Uni Halle studiert.“ Schmiedefeld machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist alles.“

„Dann hast du Abitur?“

„ABF, auch in Halle.“

„Warum hast du aufgehört?“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Ja unbedingt.“

„Mann, ich weiß es doch selber nicht.“

Die beiden schwiegen.

„Was ist jetzt mit dem 3. Dialektischen Grundgesetz,“ unterbrach Prost die Stille, „die Negation der Negation?“

„Das ist doch am einfachsten, Thomas.“

„Ich finde das am verworrensten.“

„Du liebst doch Mathe, hast du mir erzählt. Du musst nur richtig nachdenken, dann siehst du, wie einfach das ist.“

Prost grübelte ein zwei Minuten schweigend, bevor er weitersprach. „Ein positive Zahl wird negativ, wenn ich sie mit einer negativen multipliziere. – Ja, ist das die Negation?“

Schmiedefeld schwieg grinsend.

„Oh, ich glaube, jetzt geht mir ein Licht auf, denn wenn ich die negative Zahl nun mit einer weiteren negativen multipliziere, wird das Ergebnis positiv.“ Über Prosts Gesicht lief ein erstauntes, etwas ungläubiges grinsen. „Das ist dann wohl die Negation der Negation Erwin? Minus mal Minus ergibt Plus?“

„Das Verschwinden der alten Qualität, also Negation, ist verbunden mit ihrem Wiederauferstehen, der doppelten Negation, in einer neuen Qualität.“

Als sich Prost mit seinem Meißel dem Straßenrand näherte, fuhr dort der LKW vor und er ließ seinen Meißel dicht am Fahrzeug, zu Boden gleiten. Nur wenig später trafen auch Schmiedefeld und Krause ein, die sich genauso erleichtert von ihrer Last befreiten.

Boge tanzte freudig um die drei herum. „Mensch Leute, das ist ja wunderbar. Damit habt ihr einen Verzug beim Vortrieb der Bohrung verhindert.“

„Quatsch nicht so viel, Boge, rück lieber mit `ner Prämie raus“, brummte Krause und Schmiedefeld fügte grinsend hinzu, „die Idee solltest zu festhalten, Bohrleiter.“

Boge lachte. „Da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Natürlich kriegt ihr eine Prämie. Aber außerdem gibt es ja Bohr-Geld pro Meter Tiefe, und da wir nun nicht in Verzug kommen werden, gibt es auch mehr von dieser Prämie.“

Die Aktion der drei sprach sich schnell unter den Kollegen der anderen Schichten der Bohranlage herum und der angehende Student merkte von diesem Tage an, dass er sich den Respekt der 18 Bohrarbeiter erworben hatte.

 

Tod

Tod

von Anni Kloß *)

Das Leben wurde schwerer.
Kleine Hilfen mussten sein.
Die Not des Augenblicks
Gebärt Gedanken für kleine Tricks.
An die – er – vorher nicht denkt.
Das Leben wird eingeschränkt.

Manche Menschen wissen nicht,
wie wichtig es ist, dass sie einfach da sind.

Die Sonne scheint heller.
Welch merkwürdiges Licht.
Im Kopf summt ein Propeller.
Und doch stört er mich nicht.

Manche Menschen wissen nicht,
wie gut es tut, sie nur zu sehen.

Ein Ton trifft das Herz.
Für den Toten unhörbar.
Verbunden mit Schmerz
Wirkt er zerstörbar.

Manche Menschen wissen nicht,
wie wohltuend ihre Nähe ist.

Die Hoffnung stirbt nie
Und doch endet auch sie.
Mit den Grenzen fürs Leben,
Die die Kriterien vorgeben.

Manche Menschen wissen nicht,
wie tröstlich ihr gütiges Lächeln wirkt.

Die Kennzeichen sind erkennbar,
Nur wenig beeinflussbar.
Im letzten Augenblick – unumstößlich.
Für die Zurückbleibenden – untröstlich.

Manche Menschen wissen nicht,
dass sie ein Geschenk des Himmels sind.

Nicht mehr ruft, nicht mehr flüstert die Natur.

Manche Menschen wissen nicht,
wie viel ärmer wir ohne sie sind.

*) mit Unterstützung von Paul Celan und Ingeborg Bachmann

Alte Liebe 2020

Alte Liebe 2020

oder

Nicht alles ist verschuldet durch Corona

„Du hast mir doch mal erzählt, dass ihr jeden Tag am Nachmittag in der Umgebung von Bennstedt spazieren geht?“

„Genau. Seit der Corona Geschichte, fahren wir mit dem Auto nur noch zum Einkaufen.“

„Immer dasselbe, wird das nicht langweilig?“

„Langweilig? Von wegen Ingrid, ich könnte dir da eine Geschichte erzählen…“

„Erzähl Henni, das klingt, ja fast… würde ich sagen… mysteriös?“

„Mysteriös? Nein, dann wohl eher prickelnd, erotisch, sexy,“ sie machte eine kleine Pause, bevor sie nachdenklich hinzufügte, „möglicherweise verursacht durch Corona?“

Henriette Fabienne Möller saß, schön auf den vorgeschriebenen Abstand bedacht, mit ihrer Freundin Ingrid im Frisörsalon, der gerade wieder öffnen durfte. Beide, immer noch sehr gut aussehenden Frauen, waren Mitte siebzig, die eine groß und schlank, die andere kleiner mit ausgeprägten weiblichen Formen. Der Andrang, einen Termin für eine Haarpflege zu bekommen, war natürlich groß. Zwei Frisörinnen, die ältere, offensichtlich die Chefin und ein blutjunge, vermutlich eine Auszubildende, arbeiten gerade an je einer Kundin ebenfalls unterschiedlichen Alters. Trotz des Abstandes war für die zwei Wartenden Zeit und die Möglichkeit sich zu unterhalten, sie mussten nur etwas lauter sprechen. Doch das schien die anderen nicht zu stören.

„Mach‘s nicht so spannend, erzähl schon.“ Ingrid wandte ihren Kopf neugierig auffordernd ihrer Freundin zu.

„Es begann beim alltäglichen, gemütlichen Frühstück, während dem wir auch meistens den Tagesablauf ein wenig planten.“

„Sag mal Moritz, welches Ziel setzen wir uns heute für unseren Spaziergang?“

„Hmm…ich weiß nicht Max, sag du.“

Das ergraute Ehepaar Henriette Fabienne Möller und Max Balladu saßen gemütlich beim Frühstück. Der Mann Max hatte, als ambitionierter Amateurliterat, seiner Frau, der Wennichmallusthabmalerin aus dem mit dem Buchpreis Leipzig 2020 ausgezeichneten Buch ‚Stern 111‘ von Lutz Seiler ein Kapitel vorgelesen. Sie hatten ein wenig darüber diskutiert, während gleichzeitig beide die letzten Schlucke ihres Frühstückskaffes schlürften.

„Weißt du Moritz,“ der Mann benutzte den vor nun schon fünfzig Jahren erfundenen Kosenamen für seine Frau, „der Seiler versetzt unsereinen in nostalgische Stimmung, es erinnert mich an unser Leben in der DDR. Wie wäre es mit einem Nostalgie Spaziergang?“

Nachdenklich sah die Frau zu ihm, trank noch einen Schluck Kaffee, wollte etwas sagen, verwarf es  wieder und schwieg. Balladu legte seine Beine hoch auf den anderen Küchenstuhl, griff zu seiner Kaffeetasse, ein zweihundertzwanzig Milliliter Pott, den er vor zwanzig Jahren aus Baton Rouge Bundesstaat Louisiana von einer Dienstreise mitgebracht hatte, trank genüsslich seinen gezuckerten und mit Sahne verfeinerten Kaffee, dachte ebenfalls nach, sagte dann, „haben wir hier schon alle Wege, die wir mit Max gelaufen sind erledigt?“ Max war ihr Golden Retriever, der bereits im Jahr 2015 gestorben war, dem sie allerdings immer noch nachtrauerten.

„Ich weiß nicht…“ die Frau brach ab, schwieg erneut, doch nach einer Minute fuhr sie fort, „was hältst du davon,“ sie kicherte vor sich hin, so dass der Mann neugierig skeptisch zu seiner Frau sah, „ob wir die Stelle wiederfinden,“ sie kicherte erneut, „wo wir uns im Freien geliebt haben?“

„Wow, mein Weib kann Ideen haben!“ Der Mann stellte seine Tasse auf den Tisch., dachte nach, „aber das ist nur richtig gut, wenn wir dann da auch wieder Sex machen.“

„Ich denke schon, wenn wir die Stelle finden und sie immer noch so schön geschützt und unzugänglich ist…dann lieben wir uns ganz materialistisch.“

„Schöner Antrieb und – tatsächlich – eine brillante Idee. Selbstverständlich machen wir das.“ Max lächelte seiner Frau anerkennend zu.

Die beiden tranken den letzten Schluck Kaffee, standen vom Tisch auf, die Frau ging ins Wohnzimmer zu ihren Rätselheften, sie hatte das Frühstück vorbereitet, während der Mann den Tisch abräumte, das Geschirr in die Spülmaschine stapelte, den Tisch abwischte, das Licht in der Küche losch, in den geräumigen Keller strebte, wo sich im ehemaligen Kinderzimmer sein Schreibtisch mit dem Laptop befand auf dem er nun versuchte mit neuer Triebkraft seine Romanideen umzusetzen.

„Hier in der Nähe müsste es sein,“ sagte Max nachdem die Beiden etwa eine halbe Stunde marschiert waren. Der Wanderweg führte hier direkt in einen schmalen, langsam abfallenden, grün bewachsenen Einschnitt im Gelände zurück ins Dorf. Max streckte seinem rechten Arm aus und wies über eine grüne nach vorne hin langsam abfallende Ebene zu einem langgezogenem Buschwerk hin, das sich auf der linken Seite des mit etwa zehn Zentimeter großen Sprösslingen irgendeiner Getreidesorte bewachsenen Feldes über zweiundert Meter erstreckte bis hin zur dann abrupt zwanzig Meter steil abfallenden Schlucht zur Straße nach Langenbogen, was sie aber von hier nicht sehen konnten.

„Ja, das denke ich auch, aber,“ sie zeigte auf den linken Rand des von Max beschriebenen Buschwerks, „ich denke das Fleckchen muss gleich hier vorne irgendwo sein.“

„Ich kann mich noch gut erinnern,“ Max zeigte erneut über das Feld zum Ende des Buschwerks auf dessen rechte Seite, „das muss ziemlich nahe an der Schlucht zur Straße liegen. Denn von da aus…“

„Ich bin sicher,“ unterbrach die Frau, „dass die schöne Stelle, wo wir uns geliebt haben, gleich hier vorn sein muss, dicht neben dem immer steiler werdenden Rand das absteigenden Wanderweges.“

„Das Beste wird sein,“ versuchte Balladu eine Lösung zu finden, „wenn jeder nach seinen Vorstellungen dieses Plätzchen sucht. – Wir treffen uns dann ja dort?“

„Gute Idee Max.“ Die Frau winkte ihrem Mann zu, schwenkte nach links, ging ein paar Meter über das Feld und verschwand im Buschwerk. Balladu sah ihr nicht hinterher, denn er war sich sicher, dass er am anderen Ende des Buschwerks die besagte Stelle finden würde. Er schritt in einer breiten Spur, die für die Pflege und Bearbeitung des Feldes von den Traktoren geschaffen worden waren, zügig voran. Tatsächlich entdeckte er kurz vor der Schlucht einen Wildpfad, der ihn durchs Buschwerk führen und an den gesuchten Platz bringen könnte.

„Wieso erzählst du nicht weiter?“ fragte Ingrid verwundert.

Genau in dem Moment merkten die Freundinnen, dass ungewöhnliche Stille im Frisörladen eingetreten war. Offensichtlich hatten auch die vier anderen im Raum befindlichen Frauen auf die Pointe der Story gewartet.

„Kann man denn in so einem Alter noch bumsen?!“ platzte die blutjunge Frisörin in die Stille hinein.

„Hanna!“ ermahnte die Chefin vorwurfsvoll ihre junge Angestellte, wandte sich dann den beiden Freundinnen zu, „bitte endschuldigen sie, wir vier haben schon seit den einleitenden Worten ‚prickelnde erotische Story‘ zugehört.“

„Und ob,“ sagte Henni mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht, „den zweiten Frühling gibt es wirklich und das ist nicht nur ein kurzes Aufflackern.“

„Ja, aber warum,“ die Kundin mit den Lockenwicklern im Haar drehte sich etwas zu den anderen Frauen um, „haben sie dann aufgehört zu erzählen?“

„Genau Henni, wie war es? Wie ging es weiter?“

„Wunderbar,“ antwortete die nur und wartete lächelnd ab.

„Das heißt… ihr habt es getan…?“

„Es zu tun war ja unser Ziel. Die Fähigkeit dazu war vorhanden und zu Hause erprobt. Nur,“ wieder machte sie eine bedeutungsvolle Pause, „uns dort im Freien sexuell zu lieben konnten wir dennoch nicht.“

„Hat er keinen hoch gekriegt,“ platzte wieder die junge heraus.

„Hanna!“ mahnte erneut die Chefin.

„Nein, das war wirklich nicht das Problem.“

„Was dann?“ hakte die Freundin nach.

„Wir haben uns,“ erneut machte sie ein Kunstpause, „nicht gefunden.“

„Wie nicht gefunden?“ fragten gleich mehrere.

„Wir haben uns erst zu Hause wiedergesehen.“

„Was?“ „Wieso denn?“ Die fünf Zuhörerinnen sahen verständnislos zur Erzählerin.

„Ganz einfach. Wir haben uns – dort – verfehlt. Jeder hatte den Platz aus seiner Erinnerung gesucht und nach seiner eigenen Meinung, wiedergefunden. Aber eben jeder einen anderen.“

Hanna lachte schallend. Die älteren schmunzelten weise, die jüngeren lächelten verhalten mit träumerischem Blick.

„Halt!“ rief die Jüngste, weil die Chefin schon wieder zur Tagesordnung übergehen wollte, „das haben sie doch nachgeholt? Oder?“

„Kluges Mädchen,“ antwortete lächelnd die Erzählerin, „selbstverständlich!“

Corona – Information

Die zuverlässigste Information erhält man wohl über die Webseite:

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html

Deshalb und weil sich die Zahlen seit 23.3. nicht mehr änderten, haben wir am 30.3. die Statistik auf der Seitenleiste entfernt!

Dieser Beitrag wurde am 19. März 2020 in Allgemein veröffentlicht.

Das Armband

Die Uhr fiel krachend zu Boden, der Gehäusedeckel flog ab, rollte über die Fliesen der Küche und blieb scheppernd in einer Ecke liegen. „Scheiße!“ Max Balladu bückte sich, fasste das, aus seiner Halterung gesprungene Ende des Armbands, erhob sich nachdenklich das Uhrwerk betrachtend, drehte das Objekt um und sah, dass die Clock stehen geblieben war. „So ein Mist,“ schimpfte Balladu laut, „ausgerechnet jetzt,“ fügte er leiser hinzu. Gerade hatte er damit begonnen, alle Zutaten zum Backen eines Streuselkuchens auf dem Tisch zusammenzustellen.

„Was ist passiert?“ Henni Moritz kam, vorsichtig um die Ecke sehend, in die Küche. Eigentlich hieß die mit Balladu verheiratete Frau Henriette Fabienne Moritz, aber alle Freunde und Verwandten nannten sie Henni, nur ihr Mann sagte fast ausschließlich Moritz zu ihr, was aus seinem Mund anerkennend, fast zärtlich klang.

„Wat denn schon, das Scheißarmband ist wieder kaputt, Henriette.“ Er starte unverändert auf Uhr und Armband.

‚Mann ist sauer,‘ dachte sie folgerichtig, denn Henriette sagte er nur, wenn er sich ärgerte – über sie. Aber was hatte sie mit seiner Uhr zu tun? „Weißt du was, du kannst die achtzig Euro aus dem Wohnzimmerschrank holen, die ich da für eventuelle Notfälle zurückgelegt habe.“ Sie beobachtete ihren Mann, aber der bastelte nur schweigend irgendetwas an dem Armband herum. „Kauf dir endlich eine neue Uhr!“ Nach kurzem Abwarten fragte sie nach, „hast du mich gehört Max?“

„Ich vergreif mich doch nicht an deinem Notgroschen.“

Damit war der Fall für ihn erledigt. Balladu legte die Uhr mitsamt dem nur noch einseitig befestigten Armband seitlich auf den Tisch und widmete sich wieder der Backvorbereitung.

„Hier hast du die achtzig Euro Max,“ sagte die Frau nachdem sie aus dem Wohnzimmer zurückkam. Doch der Mann nahm keine Notiz von ihr und dem Geld- Also legte sie es einfach neben das Armband.

Nachdem der Kuchen fertig war, ging der Mann zu seinem Arbeitsplatz im Keller. Die Moritz warf nur einen kurzen Blick in die Küche. Das Geld war weg.

Um 13 Uhr 30 schritt Balladu die Treppe wieder nach oben, weil die zwei um diese Zeit regelmäßig zu einem Nachmittagsspaziergang aufbrachen. Oben angekommen brummte er, „ich habe das Geld eingesteckt, aber ob ich davon eine Uhr kaufe, wage ich zu bezweifeln.“

Das Ehepaar fuhr meistens mit dem Auto an bestimmte Orte, die ihnen gefielen und gingen dort dann spazieren. Gern besuchten sie in diesem Zusammenhang auch die diversen Einkaufszentren von Halle, wenn vielleicht irgendeine kleine Beschaffung notwendig sein sollte oder einfach nur das Wetter sehr schlecht war. Das Ziel legten sie fast immer erst kurz bevor sie aufbrachen fest. „Und, fahren wir zum Neustadtcenter?“

„Du sollst dein Geld für dich verwenden Moritz. Jetzt will ich das Armband im Geschäft nur wieder an der Uhr anbringen lassen.“

„Dachte ich mir schon, aber das Geld behältst du trotzdem,“ wehrte die Frau sofort ab, weil der Mann Anstalten machte seine Geldbörse aus der Tasche zu ziehen.

„Na gut. Ich behalte es erst einmal.“ Er schob das Portemonnaie wieder in die Tasche zurück. „Eigentlich würde ich viel lieber eine Uhr mit Digitalanzeige haben, aber  da finde ich im Internet nur einen einzigen Typ, der auch mit Funk und Solar ausgerüstet ist.“

„Und warum kaufst du die nicht?“

„Die Anzeige ist zu klein.“

Schweigend verließen sie das Haus, stiegen ins Auto, fuhren auf einen Parkplatz nicht zu weit entfernt vom Neustadtcentrum. Zwar wollten die zwei immer noch ein bisschen laufen, aber je älter sie wurden umso besser mussten sie ihre Kräfte einteilen.

„Ich geh am besten allein rein,“ sagte der Mann, als sie vor dem Uhr- und Juwelierladen angekommen waren.

„Sieh dir wenigstens die anderen Uhren an,“ konnte die Frau sich nicht verkneifen zu bemerken. Max verschwand wortlos im Geschäft.

„Wow,“ der Mann kam nach zehn Minuten aus dem Laden, „das junge Weib hat mich besoffen gequatscht,“ söhnte der Mann, „aber weitergeholfen hat sie mir dadurch nicht.“

„Willst du damit sagen, dass das Armband immer noch …“

„Neun Neunzig,“ unterbrach Balladu grinsend und zeigte auf die wieder kurz über seinem Handgelenk befindliche Uhr.

„So teuer dieses Mal?“

„Sie hat einen neuen Splint zur Befestigung des Armbands eingesetzt, weil der andere, alte, nichts taugen würde. – Sagte die Quasselstrippe.“

„Wie oft hast du dieses Armband schon befestigen lassen? Zehnmal, zwanzigmal?“

„Quatsch! Aber vier-fünfmal waren es wohl schon. Auch oben an der Ostsee.“

„Warum löst sich das Armband überhaupt?“

„Es ist noch ein bisschen zu lang. Deshalb rutscht es manchmal, zum Beispiel wenn ich mich bücke, über das Handgelenk. Belaste ich dann das Gelenk indem ich es beuge, steigt der Druck auf das Armband und dann gibt die schwächste Stelle nach. Das ist in der Regel der Splint zur Befestigung am Uhrgehäuse.“ Nach kurzem Nachdenken fügte er noch hinzu, „ich sollte es vielleicht doch noch etwas kürzen lassen.“

„Ich verstehe dich nicht Max. Warum sträubst du dich so eine neue Uhr zu kaufen? Vielleicht gleich mit einem Lederarmband.“

„Zu teuer,“ war die schnelle Antwort. Das klang wie ‚Howgh, ich habe gesprochen!‘ Die Moritz ließ den Mann zufrieden.

„Schlecht ist nur,“ fing plötzlich Balladu von allein wieder an, „dass diese Frau,“ er zeigte kurz mit dem Daumen der rechten Hand über seine Schulter, „nicht auch die losen Buchstaben unter dem Uhrglas herausgeholt hat. Das heißt, dass die Zeiger ab und zu erneut festhängen können.“

„Und dann?“

„Muss ich die Uhr neu starten. Zum Glück  weiß ich ja jetzt, nach langem Suchen, recherchieren und probieren,“ Balladu klopfte mit dem Zeigefinger der rechten Hand an seinen Kopf, „was ich bei dieser Watch für einen Neustart tun muss, also ist das kein Problem mehr.“

Der Mann sah zum Laden zurück. „Aber es nervt mich trotzdem.“

„Sag ich doch, kauf dir …“

„Nein!“ Das Nein klang strenger, als der Mann es gewollt hatte, aber er merkte es nicht. „Das mach ich allein – das mit den gelösten Buchstaben und Zahlen,“ dieses Mal klopfte er aufs Uhrglas, „mach ich selber.“

Die Frau schwieg, der barsche Ton hatte ihr weh getan.

Die Rückfahrt verlief schweigend, obwohl sich beide wieder besonnen hatten. Kaum zu Hause angekommen, machte Balladu sich bereits im Wohnzimmer ans Werk. Er setzte sich in seinen Fernsehsessel. Offensichtlich wollte er die Sache schnell hinter sich bringen, obwohl er keine Bedienungsanleitung mehr besaß. Eigentlich wusste er selbst, dass unüberlegtes, unplanmäßiges Handeln meistens in die Hose ging. Das begann bereits damit, dass er nicht wusste, auf welcher Seite die Uhr geöffnet werden musste. Deshalb wog er die zwei Möglichkeiten gegeneinander ab: 1. von vorn über das Uhrglas oder 2. von hinten über den Deckel. Entschlossen setzte er sein Taschenmesser unterhalb des Glases in der kaum sichtbaren Ritze an, drückte energisch und – Zack! – flog die Uhr auf den Teppich. Der einzige Effekt, den dieser Gewaltakt gebracht hatte, war, dass das Armband erneut aus der Halterung gerissen worden war. Allerdings dieses Mal auf der anderen Seite. Schweigend, voller Zorn über sich selbst, stand der Mann auf und stapfte in den Keller, wo er seinen eigentlichen Arbeitsplatz hatte, bestehend aus einem kleinen Tisch und – mit einer kleinen Lücke zum Hindurchgehen dazwischen – einem einfachen Schreibtisch in etwas derselben Größe. Während auf dem einem der Laptop stand, diente der andere der Erledigung von Aufgaben, für die der Mann mehr Platz benötigte, zum Beispiel für die jetzt notwendige Bastelei.

In dem Moment, als die Uhr im Wohnzimmer zu Boden geflogen war, wusste Balladu – abgesehen von seiner Unbesonnenheit – was er falsch gemacht hatte, er würde genau über die andere Seite, also über den Deckel, an das Ziffernblatt herankommen. Innerhalb von fünf Minuten lagen drei ziemlich kleine, goldglänzende Buchstaben und zwei Zahlen auf dem Schreibtisch und die Uhr war wieder montiert. Nur das Armband musste also erneut vom Mechaniker mit dem Halterungsbolzen befestigt werden. ‚Das sind also noch einmal drei Euro, mit einer Verkürzung vielleicht vier,‘ dachte der Mann und ‚aber dann brauche ich keine neue Uhr.‘ Dieses Chronometer, ausgerüstet mit Funk und Solar, war jetzt etwa fünf Jahre alt und bis auf die Probleme mit dem Armband, hatte das Gerät selbst sehr gut funktioniert. Nach der Kürzung saß das Armband fest an seinem linken Unterarm. Ab sofort sollte dieses Problem Armband und Uhr erledigt sein.

Oder etwa nicht?

Balladu setzte sich an den Computer, begann zu schreiben und – verschrieb sich sofort. Das Uhrarmband klemmte am Rand des Laptops fest. Früher brauchte er das lockere Armband nur weiter am Arm hochschieben und schon konnte er weiterarbeiten. Das ging nicht mehr. Als sich der Vorgang erneut wiederholte, ahnte er, dass wohl doch ein neues Armband fällig war. ‚Aber auf keinen Fall eine neue Uhr!‘ dachte der Mann. Bereits bei seinen Recherchen im Internet zu einer neuen Uhr oder wenigstens einem Armband, bei dem er den Umfang so verstellen konnte, dass es sowohl fest als auch etwas lockerer am Handgelenk anliegen konnte, hatte Balladu entdeckt, dass es ein einfaches Handwerkszeug gab, das aussah wie ein Schraubenzieher, aber mit einer u-förmigen Einbuchtung in der sogenannten Klinge. Dem Mann leuchtete sofort ein, dass – vermutlich – damit die Stege viel einfacher anzubringen seien. Entschlossen bestellte Balladu ein braunes Lederarmband mit passenden Stegen und dieses spezielle Uhrwerkzeug im Internet. Nach drei Tage hielt er beides in den Händen. Nach weiteren fünfzehn Minuten konnte er sich zum ersten Mal die Uhr mit dem neuen Armband anlegen.

War jetzt auch diese Problem endlich vom Tisch?

Am Abend des nächsten Tages wusste er es. Der Fall war erledigt.

Aber was machte er nun mit den 80 Euro? Irgendwas Gutes für seinen Moritz, aber was?

Doch das ist eine andere Geschichte.

 

Dieser Beitrag wurde am 8. Februar 2020 in Allgemein veröffentlicht.

Start in das Jahr 2020

Gefühlte Gedanken

Anni Kloß

Jene Zeiten: Oh wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet;
meine Stille war die eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.  

Ich möchte Tränen um dich weinen
Wie sie das Weh vom Herzen drängt;
Mein Leben hing so sehr an deinem,
Ich fühl’s, allein in diese Welt gezwängt.
Mein Leib, von dir, die lebenden Reste,
Ich läg mit dir, gemeinsam auf der grüner Flur.
Und nah, nah bei dir das Beste,
Unter meinem Herzen – nur!

Ich schweig mit mir, wie alle Glocken schweigen!
In die Mulde meiner Stummheit
leg ein Wort
und zieh Wälder groß zu beiden Seiten,
dass du, mein Mund, mein Herz
ganz im Schatten bleiben.

Frei nach:
Rilke, Die Liebende
Annette von Droste-Hülshoff, Die tote Lerche
Bachmann, Psalm, 4

 

Ein gutes, aktives, erfolgreiches und gesundheitlich stabiles Jahr 2020

wünschen

Max Balladu und Anni Kloß

 

Apps, der Automat

Eine kleine Geburtstagsgeschichte

Frau Henni ging in den Keller, um Zwiebeln und Kartoffeln für das Mittagessen zu holen. Sie nutzte diese Gelegenheit dazu, ins ehemalige Zimmer ihres jüngsten Sohnes zu gehen, das sich die beiden Alten, Henni und Herwig, als Studierzimmer eingerichtet hatten, um auf dem Bildschirm ihres PCs die Emails zu checken und zu beantworten oder auf Skype Videos und Bilder ihrer Söhne und Enkel anzusehen und zu kommentieren. Heute fühlte sie sich außerdem verpflichtet ihren Mann mit einer Erinnerung auf den Wecker zu fallen, denn dessen Schwester Helga hatte heute Geburtstag. Henni hörte schon die Antwort, ‚Henriette,‘ das sagte er immer, wenn er mich ärgern wollte, ‚das weiß ich doch! Du nervst.‘ Scheinbar  gab er alle seine… und ihre Termine in den Laptop ein und der alarmierte immer rechtzeitig, – behauptete er. Na ja, sie, für sich persönlich, traute der Technik nur sehr begrenzt. Oft genug hatte sie es schon erlebt, dass durch irgendwelche Fehler schlagartig alle diese Daten verschwunden waren, ja und dann? Die Software wäre zwar immer besser geworden, sagt mein Mann, aber er gab auch zu, dass die oft nur kleinen Veränderungen durch neue Updates, die zwar die Programme zuverlässiger als früher machten, aber andererseits auch ihm, dem Ingeniör, immer häufiger Schwierigkeiten bereiteten, weil er nicht gleich kapierte, wie die Änderung zu handhaben sei, ohne einen Fehler zu machen.  Genau, einen Fehler und – weg war das Adressbuch oder eben die Geburtstage. Also erinnerte sie ihn sozusagen prophylaktisch.

„Wann willst du denn deine Schwester anrufen?“

„Gut, dass du fragst, mein PC hat auch schon gepiept,“ er sah lächelnd zur Frau auf, „wollen wir gleich anrufen?“

„Wie spät ist es denn? Du weißt …“

„… gleich neun, das müsste doch gehen?“

„Ja, ja Helga ist sicher aufgestanden und Hans stört das Klingeln nicht.“

Helga, die drei Jahre ältere, selbstbewusste, couragierte Schwester, eine promovierte Zahnärztin im Ruhestand, lebte mit ihrem Mann Hans, einen Gymnasiallehrer für Mathe und Physik nach wie vor in der kleinen idyllischen Provinzstadt Osterburg. Ja, mit seiner Schwester hatte Herwig immer etwas Besonderes  verbunden und er glaubte nicht nur, weil sie verwandt miteinander waren. Mit ihr konnte er sich sowohl sehr gut unterhalten als auch streiten, fruchtbringend streiten. Allerdings war das wohl vor allen Dingen Helgas Diplomatie zu danken. Die Schwester konnte sich viel besser beherrschen als ihr jüngerer Bruder. Weshalb der Bruder ihr schon ab und zu herzloses Verhalten vorgeworfen hatte, indem er ihr dann ‚herzlose Sandra‘ an den Kopf warf. Das ist der Name einer Figur, die aus den Geschichten herrührte, die ihre Mutter den beiden Kindern im Bett erzählt oder vorgelesen hatte.

„Gut,“ Herwig griff zum Telefon, „rutschen wir ein bisschen zusammen, dann kann ich den Hörer hier,“ er zeigte auf die Ecke seines Schreibtisches, „ablegen und laut stellen.“

Der Mann wählte die Nummer aus dem internen Telefonbuch, drückte zweimal auf den grünen Knopf, beide hörten die schnelle Reihenfolge der Laute, als die Zahlen eingelesen wurden und wenig später das Besetztzeichen, ein schnell aufeinanderfolgendes, „piep, piep, piep…“

„Scheiße besetzt.“ Er wartete ein paar Sekunden, wählte dann erneut und … jetzt, mit größeren Abständen, piep – piep, das Rufzeichen. Schneller als erwartet hörten sie eine fremde Stimme:

„Hier ist der private Telefonautomat Apps von Hans und Helga Meinecke. Bitte sagen sie nach dem nächsten Piep ihren Namen – Piep.“

In die Stille hinein und etwas vom Telefon abgewandt fragte Herwig, „sag mal, haben wir uns verwählt?“

„Aber der Name hat sich doch wie Hans und Helga Meinecke angehört?“ flüsterte die Frau.

„Das habe ich nicht verstanden, bitte wiederholen sie.“

„Mensch, Max Balladu, verdammt,“ knurrte der Mann laut in Richtung Telefon.

„Mensch Max Balladu verdammt,“ reagierte der Automat, „wenn die Angelegenheit

  • beide betrifft, drücken sie die           1
  • Nur für Hans wählen sie die             2
  • Nur für Helga wählen sie die            3“

Herwig drückte hastig die 2. „Mist! Verdrückt!“

Der Automat spulte weiter sein Programm ab

  • „Wollen sie Hans eine Nachricht hinterlassen drücken sie die      1
  • Für eine Anfrage die                                                                                2
  • Für ein Gespräch drücken sie die                                                         3“

„Gottverflucht, wie kann ich mich denn korrigieren, ohne das Gespräch…“

„Mensch Max Balladu verdammt drücken sie eine Zahl zwischen 1 und 3“

quatschte der Automat dazwischen.

Herwig drückte zornig die 1.

„Sie haben 20 Sekunden Zeit, Piep.“

„Mensch ich wollte doch nur…“

„… du kannst doch zu Hans nicht einfach Mensch…“

„… na Helga hat doch – ich habe mich vertippt, entschuldige Pit.“

„Danke für die Nachricht Mensch Max Balladu verdammt.“

Noch bevor Herwig das Gespräch beenden konnte, piepte es wieder in der Leitung, der Automat hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

„Was sagst du dazu Weib?“ Herwig starrte seine Frau an, aber die erwiderte nur verständnislos seinen Blick. „Das hätte ich meiner Schwester gar nicht zugetraut. – Aber – Interessant.“

„Gibt es denn solche Apparate inzwischen tatsächlich?“ Die Frau glaubte immer noch im falschen Film zu sein.

„Programmiertechnisch ist das überhaupt kein Problem. Der Name des Automaten heißt vermutlich nicht zufällig Apps, denn eine App besteht ja mehr oder weniger aus kleinen Programmen.“ Herwig starrte auf den Hörer, „aber ist das auch nützlich? – Egal, ich will wissen, was Apps noch drauf hat.“ Herwig drückte die Wahlwiederholung, schaltete durch nochmaliges Drücken wieder den Lautsprecher an, behielt aber das Mobilteil in der Hand.

Dieses Mal nannte er schnell seinen richtigen Namen, Herwig Flessel, drückte bei der ersten Abfrage die 3 für Helga und dann die Taste 2 für eine Anfrage.

„Frau Hedwig Flessel,“ sagte der Automat, „wenn sie eine Fremde sind

  • drücken sie die             1

wenn du eine Verwandte bist

  • drücke die                         2

wenn du eine Freundin bist

  • drücke die                         3“

Herwig drückte die 1.

„Sie haben für ihre Anfrage an Frau Dr. Helga Meinecke 20 Sekunden Zeit. Sprechen sie nach dem Piepton. – Piep.“

„Hier ist nochmal der Mensch Max Balladu ohne verdammt. Ich rufe nur an, weil ich weiß, dass sie, Frau Doktor, mein Buch ‚Ein Mensch 08-15? gelesen haben. Da der Titel ein Fragezeichen enthält, würde ich gern wissen, wie sie persönlich diese Frage beantworten. Danke im Voraus.“

„Danke für die Anfrage an Frau Dr. Helga Meinecke.“ Piep, piep, piep.

„Jetzt mach‘s doch mal richtig, Mann.“

„Was heißt hier richtig,“ empörte sich der Mann, „ich habe alles richtig gemacht, aber der Automat…“

„Gib her, jetzt bin ich dran.“ Henni griff sich das Telefon, wählte die Nummer noch einmal komplett neu, der Ruf ging raus und nach drei Sekunden meldete sich wieder der Automat. Sofort drückte sie das Teil wieder ihrem Mann in die Hand. Scheinbar hatte sie gedacht, dass der vorher doch etwas falsch gemacht hatte, und dass sich jetzt das Geburtstagskind direkt melden würde. Aber auf keinen Fall wollte sie mit einem Automaten reden.

Herwig fackelte nicht lange, sprach seinen Vornamen ganz langsam und deutlich aus, dann drückte er zuerst die 3, dann nochmal die 3 für ein direktes Gespräch mit Helga. Die nächste Abfrage beantwortete er mit der 2, also verwandt, und wartete gespannt auf die Antwort.

„Hallo Wicki, ich verbinde.“

Herwig vernahm das Knacken, und nur eine Sekunde später hörten sie beide die Stimme seiner Schwester Helga. „Meinecke.“

„Hallo Schwesterchen! Hier sind Henni und Herwig…“

„…hallo!“

„… herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schwesterlein und …“

„…Gesundheit, Freude…“ ergänzte Henni

„Danke ihr beiden. Das ist…“

„Sag mal Schwesterchen, was hast du denn mit deinem Telefon gemacht?“

„Das fragst gerade du Wickie, Brüderlein? Du hast doch immer gesagt, dass mein Apparat zu alt ist, ihr mich schlecht versteht und jetzt habe ich einen neuen gekauft und das ist dir auch nicht recht?“

„Ja, das stimmt,“ meldete sich Henni, denn am häufigsten telefonierten die beiden miteinander, „wir haben dich manchmal nur sehr schlecht verstanden. Das ist heute auf alle Fälle viel besser…“

„… aber von einem solchen Apps,“ unterbrach Herwig, „habe ich ja noch nie was gehört. Wie bimmelt das Ding denn, wenn ich nur Hans oder, wie heute, nur dich sprechen will?“

„Da gibt es keinen Unterschied.“

„Wie bitte? Wozu dann die ganze Fragerei? Das hat ja ewig gedauert.“

„Ja, du sagst es. Anfangs hat zu den Ansagen des Automaten, wenn man ihn später abgehört hat, auch eine IQ-Angabe zum jeweiligen Anrufer …“

„…was Schwesterchen, das ist ja toll, dann…“

„Vorsicht Brüderchen, du hast ziemlich viel Zeit gebraucht, wie du ja selbst festgestellt hast und dann hätte da gut rauskommen können, dass …“, sie stockte unsicher, „naja, ich will dich auf keinen Falle Beleidigen, aber…“

„…ich doch nicht so schlau bin, wie ihr alle immer dachtet, sondern nur ein IQ von 100, also Durchschnitt, habe?“

„Genau das wollte ich vermeiden, weil es ja Quatsch ist mit nur wenigen Aussagen, wie Zeit, Ausdrucksweise und richtiger Grammatik eine Intelligenz zu best…“

„…ach, Schwesterlein, aber lustig wäre es schon gewesen. Ich bin zum Beispiel schon froh, dass wir überhaupt durchgekommen sind und nicht in Panik aufgegeben haben.“

„Ich habe mir das vom Verkäufer aufschwatzen lassen, aber…“

„…so viel Humor hätte ich dir gar nicht zugetraut, Schwesterlein, aber – sehr gut, das haut mich glatt um…“

„…muss ich jetzt auch immer,“ mischte sich Henni in das Gespräch ein, „zuerst mit dem Automaten sprechen,“ fragte Henni mit sorgenvoller Stimme.

„Ach was, Henni, wenn der Automat deine Stimme hört, stellt er dich sofort durch.“

„Gott sei Dank, denn sonst hätte ich mich gar nicht mehr getraut dich anzurufen.“

„Das würde ich sehr bedauern, Henni, die Gespräche mit dir sind immer sehr informativ, denn mich interessiert jeder einzelne in eurer großen Familie.“

„Das ist das Stichwort. Wie geht es Hans? Was machen die Italiener? Wie geht es der slowakisch-deutschen Familie?“

Während die Frauen mindestens noch eine halbe Stunde miteinander schwatzen würden, setzte Herwig sich wieder ab in den Keller, seine Frau würde ihm ohnehin jede Einzelheit des langen Telefongesprächs übermitteln, ob er das wollte oder nicht.