1 – Es brennt, was nicht soll
Wer ist der Mann?
Wo ist das Loch?
Dazu ein Deckel?
Mannlochdeckel!
- Oktober 2001
W |
as ist los, Eva? Ich muss gleich wieder raus. Da draußen tröppelt’s und ich weiß noch nicht, was das ist.“ Mit diesen Worten stürmte Hossa in die Messwarte und stellte sich neben die Prozessleitstation seiner Kollegin.
Die trotz ihres blauen Arbeitsanzugs attraktiv wirkende Paulus sah nervös und ein wenig frustriert zu dem großen, kräftigen Anlagenfahrer auf. „Hoffentlich bahnt sich da keine neue Störung an, Günter.“
„Genau, Eva, deshalb will ich ja nachsehen, was da tropft.“
„Und wo treibt sich Balla rum?“
„Na der ist an dieser Stelle, aber du weißt, man sollte …“
„Den lass mal alleine suchen. Der ist ja kein Kind mehr.“
„Bist du sicher?“
Die Paulus schüttelte wegen der spöttischen Bemerkung energisch mit dem Kopf. „Dich brauche ich! Du musst die beiden Pilotbrenner in der untersten Reihe wieder in Gang bringen.“
Von den insgesamt vorhandenen 82 Brennern des Spaltofens (1) waren nur 18 der untersten Reihe mit Pilotbrennern ausgerüstet worden. Das Sicherheitskonzept sah vor, dass bei Ausfall von vier Brennern, einschließlich Pilotbrennern, der gesamte Spaltofen automatisch abgeschaltet wird. Dafür sorgten die, ebenfalls nur in der untersten Reihe installierten, Flammenwächter, deren Signale in der Messwarte natürlich einzeln angezeigt wurden.
„Verstehe“, sagte der Operator, „wenn noch zwei ausfallen, fliegt die Spaltung wieder raus.“
Dem gelernten Chemiefacharbeiter Günther Hossa, inzwischen sechsundvierzig Jahre alt, mit stämmiger Figur und über einen Meter neunzig groß, sah man schon an, dass er zupacken konnte. Sein schwarzer Lockenkopf machte die imposante Person zusätzlich sympathisch. Weil er schon früh aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht hatte, war er als Jugendlicher ständig überall angeeckt, schlug sich deshalb an der Schule mit heftigen disziplinarischen Problemen herum und war auch so manches Mal vor dem Jugendrichter gelandet. Doch er nahm auch diese Lebenssituationen aufmerksam wahr, lernte aus seinen Fehlern und es gelang ihm sich zu ändern, ohne sein gesundes Gefühl für Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, aufgeben zu müssen.
Hossa machte auf dem Absatz kehrt, schritt schnell auf den Ausgang zu, drehte sich dort aber noch einmal um. „Keine Sorge, Chefin, das wird sofort erledigt.“
Die Messwartentür schlug hinter dem Operator zu.
Die Paulus sah dem Mann, ob des Wortes Chefin, grimmig hinterher, soweit das mit ihrem hübschen Gesicht überhaupt möglich war.
Die mittelgroße, gut proportionierte Eva Paulus war eine kluge Frau, die durch ihre ruhige und bestimmte, aber trotzdem unaufdringlich wirkende Art jedermann angenehm auffiel. Sie kam im Frühjahr 1982 im Alter von knapp dreißig Jahren gemeinsam mit einer Freundin zur C-V-Anlage. Die attraktive Person erregte Aufsehen bei den Männern. Die gepflegten, halblangen, fast schwarzen Haare umrahmten ein schönes Gesicht mit dunklen Augen, die einen freundlichen Glanz ausstrahlten. Auch der etwas locker sitzende blaue Arbeitsanzug konnte die weiblichen Formen dieser Frau, einen wohlgeformten Busen und den das schöne Gesamtbild abrundenden Po, nicht vollständig verbergen. Intelligenz, natürliche Autorität, Schlagfertigkeit und ihr Talent zur Anleitung von Menschen verhalfen ihr sehr schnell zu einem guten Verhältnis sowohl zu Frauen wie zu den Männern.
Zwei Minuten nach Hossas Abgang, erlosch eins der beiden anstehenden Signale und nur wenig später auch das Zweite.
Die Paulus stand auf, ging zur Rufanlage und drückte den Hebel mit der Kennzeichnung Spaltung. „Danke Günther. Alles wieder in Ordnung. Sagt mir bitte Bescheid, wenn ihr wisst, was da draußen tropft.“
„Natürlich Chefin!“
„Bin keine Chefin“, murmelte sie vor sich hin, aber ohne die Taste zu drücken und setzte sich wieder auf ihren Platz.
Wenig später kamen die beiden Außenoperatoren, das fast unzertrennliche Gespann, Günther Hossa-Emil Balla, gemeinsam in die Messwarte. Die Paulus sah ihnen erwartungsvoll entgegen. Auch die anderen Anlagenfahrer einschließlich der beiden Azubis Lukas Brandt und Hanna Licht warteten gespannt auf deren Aussage.
„Entwarnung“, sagte Hossa schon von weitem, „es war nur der Flansch einer DR-Leitung auf der Sechsmeterbühne undicht.“
Balla holte aus der Tasche seiner schmuddeligen Arbeitsjacke eine dreckige, breitgedrückte und zum Teil aufgelöste Dichtung hervor, schnitt eine übertrieben schmerzverzerrte Grimasse und bemerkte stöhnend, „Gummi, in einer C-Leitung. Ich dachte eigentlich, dass uns mit Olaf Rewe der letzte Trottel verlassen hätte.“
Der vierzigjährige, etwa einen Meter 80 große, meistens unrasierte Operator Emil Balla mit dunklen, immer ziemlich kurz geschnittenen Haaren, hatte nicht nur zwei Jahre bei der NVA gedient, sondern war danach auch noch drei Jahre auf dem 10.000-Tonnen-Stückgut-Frachter ‚Leipzig‘, der zur Schiffbaureihe Typ IV ‚Frieden‘ gehörte, zur See gefahren. Den von Körper und Statur eher unauffälligen Typ hielten Fremde für einen gutmütigen Idioten, weil Balla immer in besonders verdreckter Arbeitskleidung herumlief. Außerdem konnte es durchaus vorkommen, dass er laut zu singen begann, wenn ihm danach zumute war, „1000 Mann auf des toten Manns Kiste, ho hoho und ne Buddel voll Rum“, um anschließend auch noch auf einem Plasterohr laut zu trompeten, sodass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Balla gefiel es, dieses Bild von ihm, als gutmütig-trotteligem Spinner, aufrechtzuerhalten. Die langjährigen Kollegen wussten, dass hinter dieser Maskerade ein einsatzstarker, intelligenter und zupackender Anlagenfahrer steckte, der außerdem über ein beeindruckendes Wissen auch auf den Gebieten von Literatur, Kunst und Musik verfügte.
„Ich verstehe das auch nicht“, fuhr Hossa fort, „das ist doch ein absoluter Anfängerfehler. Das traue ich nicht einmal den Schlossern der Fremdfirmen zu.“
Bei dem letzten Satz wollte Lukas Brandt, der sich schon vorher erhoben hatte, den Raum verlassen. Er war schon fast an der Tür, als Adler ihm hinterher rief, „wo willst du hin, Lukas?“
Der Gerufene, ein kleiner, oft zerstreuter, manchmal unüberlegt handelnder, aber emsiger junger Mann, war einer der beiden Azubis der D-Schicht.
Erschrocken blieb Brandt stehen, drehte sich aber nicht um.
„Komm wieder zurück Lukas!“, befahl Adler und wandte sich dann an Balla. „Wo genau war denn diese undichte Stelle? Etwa ein Flansch am Ventil der BM-Station für das DR-System?“
„Entweder du kannst Hellsehen, Jonny“, brummte der Seemann anzüglich grinsend, „oder du hast etwas mit der faulen Sache zu tun?“
„Wahrscheinlich Letzteres.“ Adler verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Vorige Woche stellte ich bei einem Kontrollgang, zu dem ich Lukas mitgenommen hatte, diese Undichtigkeit fest. Weil ich keine neue Dichtung einstecken hatte, wollte ich eine holen gehen. Lukas meinte aber, dass das eigentlich eine richtige Arbeit für ihn wäre. Da die Stelle gut erreichbar war, habe ich mich darauf eingelassen. Wir entleerten gemeinsam die Leitung und ich drückte ihm später noch die neue Dichtung in die Hand. Gewechselt hat er sie allein. Gegen Ende der Schicht habe ich nur kontrolliert, dass das Ventil auch wieder geschlossen war.“
Der über einen Meter 90 große John Adler, den alle nur Jonny nannten, war ein sehr schlanker und sportlicher Typ. Obwohl erst 25-jährig, war er bereits geschieden und Vater einer dreijährigen Tochter, die bei der Mutter lebte. Die kurz geschnittenen, dunklen Haare sowie die kleinen Grübchen auf den Wangen gaben dem offenen Gesicht ein fast immer freundliches Aussehen. Adler machte kein Hehl daraus, dass er nur ein sehr mäßiger Schüler gewesen war. Wenn ihn aber etwas zu interessieren begann, wie das Prozessleitsystem der modernen C-V-Anlage, dann wurde sein Geist hellwach, er erlernte schnell die Fakten, erkannte das Wesentliche, fand die Zusammenhänge heraus und handelte flott, sicher und richtig. Seit 4 Jahren gehörte er zum C-V-Team.
Jonny sah zu Brandt, der sich langsam der Gruppe genähert hatte. „Was hast du mit der neuen Dichtung gemacht, Lukas? Ich verstehe das nicht.“
Der junge Mann trat von einem Fuß auf den anderen und stammelte nuschelnd, sodass man ihn kaum verstehen konnte, „ich musste noch dringend aufs Klo. Da ließ ich die Dichtung liegen, was ich aber erst vor Ort merkte. Weil ich keine Lust hatte zurückzulaufen, sah ich mich auf der Bühne nach Ersatz um. Am Fuß des Solekühlers fand ich diese Dichtung und baute sie ein.“
Es herrschte Stille in der Messwarte.
Auch der zweite Azubi, die sensible, manchmal ein wenig langsam denkende, aber über ein gutes Faktenwissen verfügende Hanna Licht mit den langen blonden Haaren, starrte erschrocken auf ihren gleichgroßen Kumpel. Der war kreidebleich im Gesicht geworden und konnte immer noch nicht ruhig stehen.
Balla baute sich vor dem kleinen Mann auf. „Mensch! Entspann dich Brandt! Sonst pisst du dir noch in die Hose. – Du hast dich getraut die Wahrheit zu sagen. Damit hast du deine Schuld schon halbiert.“
Zustimmendes Gemurmel lief durch die Messwarte.
Hossa lachte kurz auf. „Beim Wort pissen fällt mir doch gleich die alte Geschichte von Schmidt und Müller ein.“
Alle waren froh, am meisten Lukas Brandt, dass dieser Satz von der peinlichen Situation abgelenkte und er fragte deshalb mit übertriebenem Eifer, „was ist den beiden denn damals passiert?“
Wer lange genug in der V-Fabrik arbeitete, wusste, wie wichtig es war, bei Kontrollgängen in der Anlage auf die Dichtheit des Rohrleitungs- und Apparatesystems zu achten. So konnte schon manche Störung rechtzeitig erkannt und ein Produktionsausfall vermieden werden. Wenn man also feststellte, dass es irgendwo tröpfelte, aber nicht zu sehen war, woher die Flüssigkeit kam, dann ließ man ein wenig davon auf die Handfläche tropfen und erkannte am Aussehen, der Temperatur, der Wirkung auf die Hand und am Geruch, um welchen Stoff es sich handelte. Dann wusste derjenige auch schnell, welche Rohrleitung undicht sein musste und konnte sofort Gegenmaßnahmen ergreifen. Hossa hatte auf eine alte Begebenheit angespielt, die den damaligen Schichtleitern Schmidt und Müller passiert war, die beide heute als kompetente Experten in der Tagschicht arbeiteten.
Gustav Müller, den alle nur Müli riefen, hatte ein Lehrerstudium für Mathe und Physik absolviert, aber nur ein paar Jahre an einer Schule in Halle gearbeitet. Müller fand keinen Gefallen am Unterrichten. Deshalb ging er 1969, wie viele andere auch, ins große Chemiekombinat LUNA und arbeitete als Anlagenfahrer zusammen mit Franz Schmidt in der alten V-Anlage, die auf der Basis von aus Karbid gewonnenem Acetylen zusammen mit HCl, V herstellte. Der nicht sehr große Müller mit untersetzter Figur, dunkelblondem, bereits in jungen Jahren schon etwas gelichteten Haaren, war ein hochintelligenter, schnell denkender Mann. Der kleine Schmerbauch und die Geheimratsecken ließen ihn wie einen unsportlichen Gelehrten aussehen, aber das war ein Irrtum, denn Müli war ein flinker und wendiger Operator. 1978 ging er zusammen mit dem fünf Jahre jüngeren Schmidt zum neuen Fabrikkomplex B, V, PLAST.
Franz Schmidt hatte sein gesamtes bisheriges Arbeitsleben, einschließlich der Lehre, im Kombinat VEB Chemische Werke LUNA zugebracht. Bevor er in die neue V-Fabrik des BVP-Komplexes wechselte, arbeitete er zwanzig Jahre in der alten V-Anlage. Zehn davon leitete der groß gewachsene und kräftige Mann eine Schichtbesatzung. Franz war beliebt bei seinen Kollegen, da er sich nie etwas auf seinen Leiterposten einbildete, weil er humorvoll sein konnte und sich bemühte, zu jedermann gerecht zu sein. Seinen Ingenieurabschluss erlangte er im Fernstudium, obgleich studieren nicht gerade seine Welt war, doch er hatte sich durchgebissen. Schmidt sah mit seiner kräftigen Figur und imposanten Größe eher wie ein Bär aus, aber er konnte dennoch exzellent tanzen und er liebte den Anblick schöner Frauen, woraus er auch kein Hehl machte.
Müller und Schmidt ergänzten sich glänzend, weil der kleinere hervorragend die Theorie beherrschte und schnell denken konnte, während der große der mit allen Wassern gewaschene Praktiker war. Franz ging immer besonnen zu Werke, manchmal vielleicht etwas ängstlich wirkend. Müli hingegen stürmte schon mal ungestüm voran und nur seine Klugheit und der gesunde Instinkt für Gefahren, bewahrten ihn vor größeren Fehlern. Schmidt lehnte 1981, als Dr. John die Anlage verließ, das Angebot Abschnittsleiter V zu werden ab, weil er unbedingt in der Wechselschicht bleiben wollte. Also übernahm Müller diesen Job. Nach der Wende 1990 wurden die beiden erstklassigen Experten auf dem Gebiet der V-Herstellung als Ingenieure in der Tagschicht eingesetzt.
Adler fühlte sich indirekt aufgefordert, die kleine Story zu erzählen. „Ja, was war den beiden 1980 passiert?“ (2)
- September 1980
Bei einem gemeinsamen Rundgang in der Spaltung stieß Müller seinen Kollegen Schmidt an, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. „Guck mal Franz, da vorn tröppelt‘s.“
Tatsächlich tropfte irgendeine Flüssigkeit von einer der vielen Rohrleitungen aus vier Meter Höhe in die Anlagentasse. Die Männer gingen zu dieser Stelle, Müller hielt seine Hand drunter und fing die Tropfen auf.
Die Brühe wirkte wie Wasser, fühlte sich lauwarm an, hatte eine leicht gelbliche Färbung, ätzte nicht und roch, ja roch wie?
„Du Franz. Weißt Du wie das riecht?“ Gustav hielt Schmidt seine Hand mit der gelblichen Flüssigkeit hin.
Der hielt seine Nase darüber, schnüffelte und grinste. „Das riecht wie Pisse, Müli!“
Sie traten einen Schritt zur Seite, sodass sie auf die über ihnen liegende Bühne sehen konnten.
Es war Pisse.
Auf der Sechsmeterbühne stand ein Schlosser und pinkelte auf die Rohrleitungen.
Müller brüllte rot vor Wut im Gesicht: „Ääh Langer! Spinnst du?! Pisst hier einfach in die Anlage, du Schwein!“
Der ließ sich gar nicht stören. „Halt die Luft an Müller! Du wolltest doch diesen Luftkühlermotor so schnell wie möglich montiert haben.“
Der Schlosser Paul war jetzt fertig mit Pinkeln, ließ seinen Schwanz wieder in der Hose verschwinden und fügte seinem Kommentar noch hinzu, „wenn ich erst aufs Klo pissen gehen muss, dann dauert’s viel länger.“
Gustav winkte nur ab und drehte sich zu Schmidt um. „Gott sei Dank habe ich nicht auch noch gekostet.“
Franz lachte. „Ich glaube, Kupfer hätte das getan.“
Harry Kupfer war zu dieser Zeit 25 Jahre alt. Der mittelgroße Mann mit stattlich-sportlicher Figur hatte gerade sein Chemiestudium geschafft und auch die Diplomarbeit erfolgreich verteidigt, aber er wusste nicht so richtig, was er damit anfangen sollte. Kurzerhand entschloss sich der gutaussehende, mittelgroße Mann, als Anlagenfahrer in der neuen V-Fabrik anzufangen. Der Diplomchemiker machte auch in seinem blauen Arbeitsanzug eine gute Figur. Die Anonymität unter den Anlagenfahrern, half ihm auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und sozusagen von unten her, sein neues Leben aufzubauen. Schnell spürte Kupfer, dass er hier in der C-V-Anlage seine Berufung gefunden hatte. Nach ein paar Monaten schon wurde er als Schichtleiter und ab 1984 als Abschnittsleiter eingesetzt. Harry Kupfer war wohl ein Musterbeispiel dafür, wie praktische Arbeit einem unentschlossenen jungen Menschen auf die Strümpfe helfen kann. Als nach der Wende die beiden Abschnitte C und V wieder zusammengelegt wurden, übernahm Kupfer als Fachexperte die technologische Betreuung der C-Bereiche.
Gegenwart, 24. Oktober
Die Paulus fühlte sich verpflichtet der Erzählung noch ein paar belehrende Worte hinzuzufügen. „Das kann man natürlich nur so machen, wenn man sich mit den Stoffen der C-V-Anlage genau auskennt. Ein Tropfen 20 %-ige Natronlauge auf der Hand ist nicht so schlimm, wenn man die Haut sofort waschen kann. Ein Tropfen ins Auge dagegen kann das Augenlicht kosten. Da ist Urin absolut harmlos dagegen. – Apropos harmlos. Das erinnert mich an eine andere Story aus der Vergangenheit, die mich besonders beeindruckt hat, und zwar, als Prosts Technologe Robert Baum mit einer Handlampe den hundert Kubikmeter großen DC-Reaktor am Mannloch angezündet hat. Kannst Du dich erinnern, Kecke?“
Die Angesprochene, eine rothaarige, manchmal phlegmatisch, ein anderes Mal cholerisch reagierende Frau, hatte 1980 mit 19 Jahren in der V-Fabrik ihre Lehre als Chemiefacharbeiter abgeschlossen und war zusammen mit drei anderen weiblichen Azubis in das Stammpersonal der Anlage übernommen worden. Wenn die nicht sehr große Marlies Streller kritisiert wurde, schaltete sie sofort auf stur und dann war nichts mehr mit ihr anzufangen. Sie demonstrierte flugs Gleichgültigkeit, die ihre Freunde zur Weißglut bringen konnte. Das führte wohl zu dem etwas zynisch klingenden Spitznamen ‚Kecke‘. Nach der Geburt ihres ersten Kindes staunten die Kollegen nicht schlecht, wie die junge Mutter, sozusagen von heute auf morgen, ihren Charakter geändert hatte. Ihre Sturheit war wie weggeblasen. Sie reagierte auf Hinweise, wurde aufgeschlossener und zeigte Verantwortungsgefühl.
„Und ob“, stimmte die Streller impulsiv zu, „das war spektakulär und fand doch die einfachste Lösung, ja war letztendlich – harmlos! Leg schon los Eva und erzähle, damit wir endlich vom Thema pinkeln wegkommen. Außerdem sehe ich doch, dass Hanna schon vor Neugier brennt.“
Die Paulus ließ sich nicht mehr länger bitten. „Brennt, das ist das richtige Stichwort. Es muss so im April 1981 gewesen sein. Unser heutiger Chef Dr. Prost war damals Abschnittsleiter für den C-Bereich.“ (3)
- April 1981
Die geplante Großabstellung lief schon 2 Tage. Die gesamte Anlage war bereits abgestellt worden und die ersten Behälter und Apparate wurden geöffnet. Besonders gespannt waren die Ingenieure vom Abschnitt C, wie es wohl in den beiden parallelgeschalteten DC-Reaktoren aussehen würde.
Bei diesen Apparaten handelte es sich um 100 Tausend Liter fassende Behälter, in denen sich im unteren Bereich ein kleinerer, nach oben offener Mantelraum befand, der mit Raschigringen gefüllt war. Mithilfe großer Pumpen wurden von unten zweitausendfünfhundert Kubikmeter flüssiges C pro Stunde über eine riesige Spezialdüse eingespeist, die direkt auf die Füllkörperschicht gerichtet war und die etwa in der Mitte des Reaktors seitlich wieder abgezogen wurde. Die Düse war wie eine Wasserstrahlpumpe gebaut worden und diente dazu, das B gasförmig in den C-Strom einzusaugen, wo es sich mit der Flüssigkeit mischte und weitestgehend darin löste. Kurz vor Eintritt des Gemischs in den Reaktor, wurde der 2. Reaktionspartner, das Gas E, mit hohem Druck eingespeist. Die Füllkörperschicht sorgte für eine sehr gute Durchmischung aller Komponenten und dadurch fand eine fast vollständige chemische Umsetzung von B und E zu C statt. (4)
Leider hatte sich in der Vergangenheit schon zweimal die Halterung für die Füllkörper gelöst, wodurch der Umsatz von E-Gas spürbar sank und damit die Rohstoffverluste erheblich anstiegen. Der Aufwand, die Füllkörper wieder zu befestigen, war groß und die ganze Aktion auch sehr arbeitsintensiv und anstrengend. Alle Kollegen des Abschnitts C hofften sehr, dass dieses Mal die Halterung für die Füllkörperschicht gehalten hatte, obwohl in der letzten Zeit die E-Verluste doch ein wenig angestiegen waren. Baum, Kupfer und Prost brannten darauf, sich davon so schnell wie möglich, zu vergewissern.
Der schlanke, promovierte Ingenieur für Verfahrenstechnik Thomas Prost, stellte trotz sportlicher Figur mit mittlerer Körpergröße eine eher unauffällige Erscheinung dar, weshalb er sich wahrscheinlich einen struppigen Vollbart hatte wachsen lassen. Er arbeitete bereits seit der Fertigstellung der Fabrik im Jahr 1978 in der C-V-Anlage. Prost liebte es, wenn er richtig mit zupacken konnte, wenn Probleme zu lösen waren, die ganz und gar in seiner Verantwortung lagen. Die Weltanschauung dieses zum Widerspruch neigenden Mannes war geprägt durch katholische Erziehung, sozialistische Schule, Büchern mit progressivem, humanistischem und materialistischem Gedankengut sowie seine praktischen Lebenserfahrungen, die er sich auf einer Bohranlage, bei der Armee, bei der Arbeit an der Hochschule und natürlich bei seiner Tätigkeit als Ingenieur in verschiedenen Positionen erworben hatte.
Mit der Bildung der beiden Abschnitte im Mai 1980 wurde Prost zum Leiter des C-Bereichs ernannt.
Seit ein paar Monaten arbeitete der frischgebackenen Diplomingenieur für Verfahrenstechnik, mit der haarsträubenden Schrift, Robert Baum, den Prost schon von der Technischen Hochschule her kannte, an seiner Seite.
Der großgewachsene junge Mann hatte zusammen mit seiner Frau beim wissenschaftlichen Assistenten Prost die Seminare für Reaktionstechnik besucht, als der noch an der Bildungseinrichtung gearbeitet hat. Der Abschnittsleiter wusste also, dass sein neuer Technologe ein guter Student gewesen war, der nicht viel redete, aber logisch denken konnte. Gleich von Anfang an zeigte sich außerdem, dass der drahtige, lang aufgeschossene junge Kollege mit der athletischen Figur, auch richtig zupacken konnte. Baum und Prost waren schnell ein prächtiges Duo. Es war manchmal halsbrecherisch, aber nie leichtfertig, wie der – in gewisser Weise – jungenhafte Ingenieur in der Anlage herumkletterte, wenn Schieber bedient werden mussten, die nur schwer zu erreichen waren, weil die Projektanten schlecht gearbeitet hatten.
Als heute über die Lautsprecher der Rufanlage zu hören war: „Das Mannloch des 1. DC-Reaktors ist geöffnet!“, stürzten die drei von verschiedenen Orten der Anlage aus zum benannten Objekt.
Jeder hatte sich noch schnell eine Taschenlampe besorgt, eilte Treppen und Steigleitern hinauf, denn der angestrebte Ort befand sich in vierzehn Meter Höhe.
Baum erreichte als Erster das Ziel, schob den Mannlochdeckel vollständig zur Seite, hielt die Lampe in die Öffnung und blickte vorsichtig in den dunklen Raum. Die anderen beiden waren noch ein Stückchen entfernt.
Nach ein paar Sekunden zog Robert den Kopf wieder zurück, nahm die Lampe aus der Öffnung heraus, und nur eine Zehntelsekunde danach ertönte ein dumpfes und dennoch lautes, weit in der Anlage zu hörendes:
„Flo-o-o-op!“
Wie beim Anzünden eines übergroßen Bunsenbrenners und eine stattliche Flamme von einem Meter Durchmesser und mehreren Metern Länge schlug blakend aus dem Mannloch des Reaktors. Baum konnte sich gerade noch hinter dem Deckel in Sicherheit bringen. Er blieb unversehrt, also konnte er sofort flink wie ein Wiesel über die Steigleiter auf den Kopf des Reaktors klettern und sich von da ins Apparategerüst auf die Achtzehnmeterbühne retten. Dort atmete er tief durch und beobachtete die geräuschvoll, aber ruhig flackernde Flamme.
Kupfer und Prost waren Sekunden starr vor Schreck, dann lief Harry zur Rufanlage, drückte den Knopf für die Messwarte und brüllte ins Mikrofon:
„Sofort die Feuerwehr rufen! Der DC-Reaktor brennt aus dem oberen Mannloch!“, und mit schon etwas ruhigerer Stimme fuhr er fort, „Prost empfängt die Einsatzwagen auf der Ostseite des Apparategerüstes.“
Es dauerte nur fünf Minuten, bis die Feuerwehr vor Ort ankam.
Aber was sollten sie tun?
Mit Wasser zum Mannloch hochspritzen?
Unfug, die Wirkung verpufft.
Was könnte man mit Schaum machen?
Nichts, denn das Mannloch befand sich ja in freier Atmosphäre in vierzehn Meter Höhe.
Also, was tun?
Prost diskutierte noch mit der Feuerwehr, als er sah, wie Baum wieder über den Kopf des Reaktor zum brennenden Mannloch kletterte, im Schutz es Deckels dessen Griffe erfasste und, derart vor der Hitze geschützt, langsam den Deckel, die Flamme quasi vor sich herschiebend, auf die Öffnung schob.
Ohne einen Laut erlosch die Flamme und es herrschte sofort Ruhe.
Es dauerte einige Sekunden, bis alle begriffen hatten, dass die Gefahr vorüber war, denn die Flamme war aus, das Mannloch geschlossen und im Reaktor konnte es nicht brennen, weil da kein Sauerstoff vorhanden war.
Eine scheinbar riesige Störung, eine Explosion mit unvorstellbarem Ausmaß, hatte sich in Luft aufgelöst, beziehungsweise war zugeklappt worden, wie ein Buch, das man zu Ende gelesen hatte.
Doch was war passiert?
Der Reaktor war genau nach Vorschrift abgefahren, inertisiert und entleert worden. Trotzdem blieben natürlich Reste von Flüssigkeit in toten Ecken zurück. Das darin noch gelöste Gas E entspannte sich in den leeren, drucklosen Reaktorraum. Das allein stellte kein Problem dar, denn der gesamte Innenraum war mit Stickstoff gefüllt und absolut ohne Sauerstoff. Das änderte sich allerdings mit dem Öffnen des Mannlochdeckels, weil das austretende Gemisch sich nun mit dem Sauerstoff der Luft mischte. Doch auch so wäre noch nichts passiert, denn für die vorhandenen Gase ist eine Selbstentzündung ausgeschlossen und außerdem lagen deren Zündtemperaturen alle viel zu hoch.
Das Problem kam erst mit der Lampe.
Robert wusste, dass er in dem großen Reaktor nur mit einem starken Scheinwerfer etwas sehen würde. Er bedachte nicht, dass sich die Scheibe des Strahlers schon in kurzer Zeit so stark erhitzen würde, dass sie außerhalb des Reaktors das austretende Gasgemisch entflammen konnte. Genau das passierte aber, als Baum die Lampe aus dem Mannloch wieder herauszog.
Die Feuerwehr war inzwischen wieder abgefahren, genauso froh, wie die Anlagenleute, dass alles so harmlos verlaufen war.
Baum, Prost und Kupfer trafen sich am Fuß des Reaktors.
„Das ist alles meine Schuld!“ Der Technologe war völlig zerknirscht. „Ich hätte das wissen müssen!“
„Moment Robert, sieh mal, was ich in der Hand habe.“ Prost hielt Baum seine Lampe hin, mit der er auf dem Weg zum Reaktor gewesen war. „Wenn ich schneller als du gerannt wäre, hätte ich den Reaktor angezündet! Also, wenn überhaupt, sitzen wir beide auf der Anklagebank.“
Beide sahen zu Harry und dieser hielt eine ex-geschützte Lampe in der Hand, also die, mit der nichts passiert wäre.
„Ich muss zu meiner Schande gestehen“, Kupfer schwenkte beim Sprechen das kleine Gerät hin und her, „dass ich nur dieses Ding genommen habe, weil ihr schneller gewesen seid als ich und kein solcher Strahler mehr da war. Also bin ich mit der ex-geschützten losgerannt, wohl wissend, dass ich damit eigentlich nichts im Reaktor sehen werde. D. h. also, wenn ich Erster gewesen wäre, hätte ich nicht den Reaktor angezündet. Aber, da ich so auch nichts sehen konnte, wäre mir nichts andres übriggeblieben, als auf euch zu warten und dann hätten wir zusammen den Reaktor entflammt.“
„Genug mit hätte, könnte, würde“, beendete Prost die Selbstvorwürfe, „wir waren wohl alle Drei übereifrig und das sollte uns eine Lehre sein.“
Noch in der gleichen Stunde haben sie gemeinsam vor versammelter Mannschaft den Vorfall ausgewertet und nicht verschwiegen, dass sie sich alle drei falsch und dumm verhalten hatten.
Eine Produktionsanlage wie die C-V-Anlage zwingt zur Ehrlichkeit, weil jede Erkenntnis, die verschwiegen wird, zu Folgefehlern führen kann, die noch viel schlimmere Auswirkungen haben könnten.
Gegenwart, 24. Oktober
Den jungen Leuten brannten offensichtlich Fragen auf der Zunge, denn es sprudelte sofort aus ihnen heraus.
„Wieso konnte die Flamme so leicht ausgehen?“, wollte Hanna Licht, die hübsche Azubi wissen.
„Das klingt ja richtig mystisch“, sagte Lukas, „das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. War der Mannlochdeckel nicht zu warm geworden?“ Der junge Mann hatte sein peinliches Geständnis offensichtlich schon wieder vergessen.
Auch Jonny runzelte nachdenklich die Stirn. „Gab es wirklich keine Folgeschäden? Und wie sah es denn nun im Reaktor aus? Waren die Füllkörper noch an ihrem Platz?“
Hossa übernahm die Beantwortung der ersten Frage. „Die große Fläche des Mannlochdeckels hat den Spalt so eng gemacht, dass kaum noch Gas austreten konnte. Der Nachschub an brennbarem Material war also zu gering, sodass die Flamme eben einfach ausging.“
„Das Geschriebene lautet aber: ‚Mene mene tekel u-parsin‘ (5)“, meldete sich orakelnd Balla, in der für ihn typischen Art, zu Wort, „oder, wie der Bibelforscher sagen würde: ‚Gewogen wurdest du und zu leicht befunden‘ (5). Was in diesem Fall bedeutet, dass einfach die Energieübertragung von der Flamme auf den massiven Mannlochdeckel so schlecht war, dass dessen Temperaturerhöhung minimal blieb.“
„Damit ist eigentlich auch gleich deine erste Frage beantwortet, Jonny oder?“ Hossa sah auffordernd zu Adler.
Der Operator nickte nachdenklich, sah von Hossa zu Balla, dann zur Paulus und wieder zurück zu Balla. „Dein komisches Zitat, Emil, hat in meinem Kopf eine völlig andere Frage aufkommen lassen. Ich weiß selbst nicht warum.“
Weil Adler zögernd schwieg, forderte Balla ihn grinsend auf, „na spuck’s schon aus, Jonny. Immerhin hat Gottes Wort dieses Gefühl in dir ausgelöst.“
„Sagt mal, stimmt es, dass unser Chef in der Wendezeit SED-Parteisekretär unserer Produktionsdirektion geworden ist?“ Jonny sagte das mit einem zweifelnden Lächeln auf den Lippen.
Balla zeigte grinsend mit der rechten Hand zu Adler. „Das – ist nun wirklich – eine völlig andere Frage, Jonny, und die fällt dir bei einem Zitat aus der Bibel ein?“
„Na ja“, Adler wand sich, als würden die Worte ihm Schmerzen bereiten, „das klingt so, so – okkult – gar nicht zu Prost passend.“
Balla nickte ernst. „Eigentlich hast du recht, Jonny, denn in dem Bibelvers heißt es ja auch: ‚Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende.‘ (5) Und das stellt tatsächlich einen Zusammenhang her, denn diese Sache, auf die du da anspielst, bezieht sich auf den Untergang der DDR. Im Speziellen weist es quasi auf Prosts kleine, persönliche Revolution. Das will heute keiner mehr glauben, aber es stimmt.“
Hossa fügte noch erklärend hinzu, „der Doc hat sich schon immer gern mit den Großkopferten, damals vor allen Dingen mit den Parteibonzen, angelegt.“
„Das stimmt“, mischte sich nun auch Tanja in das Gespräch ein, die wie Prost Mitglied der SED gewesen war, „zum Beispiel bei einer der letzten Parteiwahlen 1988 in unserer Produktionsabteilung hat er gegen den Willen der übergeordneten SED-Leitung sowohl für den Posten des Sekretärs als auch für die Kreisleitung schon vorher andere Kandidaten vorgeschlagen und propagiert. Diese Parteiveranstaltung wurde dadurch für die DDR-Zeit recht ungewöhnlich. Doch das ist eine andere Geschichte.“
Jonnys Augen leuchteten, „das klingt ja fast nach Revolte. Das interessiert mich.“
Die junge Frau winkte ab, „lies einfach das Buch von Max Balladu, Jonny, mit dem Titel ‚Mord am Abend und die kleine Revolution‘ (6), da steht alles drin.“
Tanja Büchner, geborene Rose, hatte zusammen mit Anne Lieba, Marlies und Betty Barthel nach ihrer Lehre Ende 1979, in der C-V-Anlage angefangen zu arbeiten. Die Natur hatte die kluge und sympathische junge Frau mit einem ungewöhnlichen disproportionalen Körper, der besonders durch seine Fülle hervorstach, ausgerüstet. Mit ihrem anmutigen Gesicht und der wohlklingenden Stimme konnte sie schnell die negative Wirkung ihrer äußeren Formen kompensieren.
„Erkläre ihm doch wenigstens, worum es da geht, Tanja“, mischte sich wieder Balla ein, „immerhin ist in dem Buch das politische, gemischt mit einem Kriminalfall.“
Tanja räusperte sich.
„Na gut, wie ich schon erwähnte, ging es damals um eine ungewöhnliche Parteiwahl, der Prost seinen Stempel aufgedrückt hatte, die dann aber, für ihn völlig unerwartet, ganz anders verlaufen war. Der Doc wollte den Posten des hauptamtlichen Parteisekretärs für die V-Fabrik abschaffen und schlug deshalb dafür den Tagschichtmeister vor. Außerdem wollte er unbedingt verhindern, dass die damalige Betriebswirtin Ellen Weber, die ihre Zugehörigkeit zur SED-Kreisleitung schamlos zu ihrem eigenen Vorteil ausnutze, wieder in diese Funktion gewählt wurde. Obwohl nicht nur die Parteimitglieder die Weber genauso kritisch sahen, wurde sie trotzdem, mit nur zwei Gegenstimmen, gewählt.“
Die Büchner erläuterte ruhig und gelassen die Zusammenhänge und endete mit den Worten, „heute wissen wir natürlich, dass eine offene Wahl gegenüber einer geheimen, doch etwas ganz anderes ist, aber damals?“ Tanja sah in die zweifelnden, aber interessiert blickenden Augen der jungen Leute. „Ihr versteht bloß Bahnhof oder?“
Doch für eine Antwort war heute keine Zeit mehr, denn gleich kam die neue Schichtbesatzung und für den Wechsel war noch einiges zu tun.
In der folgenden Nachtschicht warteten Lukas und Hanna schon ungeduldig auf einen günstigen Moment, um ihre Fragen vom gestrigen Tage anbringen zu können. Der ergab sich, als die Paulus für eine Geburtstagkarte Unterschriften einsammelte. Als sie sich neben Tanja an deren Leitstation setzte und dort die Karte auf den Tisch legte, stellten die Azubis sich dazu.
„Uns geht die Geschichte von gestern nicht aus dem Kopf“, begann Lukas und Hanna fuhr fort, „ist eine offene Wahl eigentlich nicht ehrlicher?“
Adler rutschte mit seinem Stuhl ebenfalls näher. „Wie kann man denn jemanden wählen den man gar nicht mag?“
„Außerdem“, Hanna strich sich gedankenversunken durch ihr langes, schönes Haar, „was ist nach der Wende aus der Kollegin Weber geworden?“
„Die letzte Frage reichen wir an Prost weiter“, Eva lächelte den jungen Leuten zu, „der kommt bestimmt noch sich verabschieden, bevor er nach Hause fährt.“
Hossa und Balla näherten sich ebenfalls der kleinen Gesprächsrunde und setzten sich neben die beiden Frauen.
„Die anderen Fragen können wir diskutieren“, sagte Tanja, „beantworten muss sie sich jeder selbst.“
„Jemandem offen und ehrlich seine Meinung sagen ist mutig.“ Hanna lauschte ihren eigenen Worten hinterher und dachte einen Moment nach. „Es gehört aber wohl noch mehr Mut dazu, offen bei einer Wahl eine Entscheidung zu fällen.“
Balla sah Hanna von unten schelmisch an. „Dürfen nur die wählen, die mutig sind?“
Die junge Frau sah Emil verwirrt an. „Aber so viel Mut muss doch jeder haben“, bemerkte sie schon fast trotzig.
Die Paulus wiegte ihren Kopf hin und her. „Was macht aber der oder diejenige, die nicht so viel Mut haben, aber doch mutig erscheinen wollen oder die ganz und gar unentschlossenen?“
„Die schließen sich der Mehrheit an“, antwortete Lukas anstelle von Hanna.
Prost war inzwischen unbemerkt in die Messwarte gekommen und hatte interessiert zugehört.
„Genau und damit ist das Wahlergebnis nur eine Farce“, mischte er sich nun mit ruhiger Stimme ein.
„Aber ich verstehe trotzdem nicht“, Jonny zog die Aufmerksamkeit auf sich, „dass man einen Menschen wählt, den man nicht leiden kann.“
Die Paulus erhob sich und stellte sich neben Prost. „Wir haben nach der Wende oft über dieses Thema diskutiert. Es gibt keine Antwort auf deine Frage, Jonny. Die menschliche Psyche ist nicht so leicht zu durchschauen. Aber eins steht fest, eine geheime Wahl schafft zumindest eine wichtige Voraussetzung, dass das Wahlergebnis sich der wahren Volksmeinung tatsächlich annähert. Doch das allein verhindert nicht, dass unsympathische Menschen gewählt werden.“
Hanna hatte sehr aufmerksam zugehört. Ihr Gesicht wirkte wieder entspannt, als sie erneut das Wort ergriff. „Ja, ich begreife zumindest, dass diese Frage der offenen oder geheimen Wahl, nicht so leicht zu beantworten ist, wie ich es geglaubt habe. Doch nun kann ich sie fragen, Herr Doktor, was ist denn aus der Kollegin Weber geworden?“
Prost sah lächelnd zu der jungen Frau. „Danke, dass du mir diese Frage stellst, Hanna. Ellen Weber hat sich zur Wendezeit gravierend verändert. Es begann damit, dass sie es lernte, den sie umgebenden Menschen, also auch mir, zuzuhören. Ihre Überheblichkeit war wie weggeblasen. Sie konzentrierte sich auf ihre Aufgaben ohne viel Geschwätz. Anfang des Jahres 1990 hatte ich das Gefühl, eine völlig andere Frau vor mir zu haben: fleißig, freundlich, aufgeschlossen, auch gegenüber jedem Anlagenfahrer. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, von ihr verraten zu werden. Sie wäre heute noch hier, wenn …“
Prost sah in die Augen der Paulus und bemerkte, wie diese leicht ihren Kopf schüttelte.
Der Mann verstand und schwieg.
Ellen Weber war kurz vor ihrer Entlassung tödlich verunglückt (6).
Die kleine Licht durchbrach die eingetretene Stille. „Sie bedauern das, obwohl diese Frau ihnen zu DDR-Zeiten offensichtlich auch Ärger gemacht hat?“ Hanna lächelte Prost zu, weil sie dessen Verhalten sympathisch fand.
„Ja, ich bedauere das. Ich habe während der Wendezeit gesehen, wie viele Menschen von heute auf morgen ihre Überzeugungen über Bord geworfen haben und den neuen Herren zum Munde redeten. Ellen dagegen hat sich tatsächlich bemüht ehrlich mit der neuen Situation umzugehen, sich wirklich zu verändern und ich hätte ihr gerne dabei weiter geholfen.“
„Diese Antwort kann man auch als Schlusswort betrachten.“ Eva Paulus wandte sich an die versammelte Truppe, „lasst uns wieder an die Arbeit und Prost nach Hause gehen.“
Als wenn ein Bann durchbrochen worden wäre, gingen alle auseinander.
Der Betriebsleiter verabschiedete sich kurz und verließ die Messwarte.