Die Uhr fiel krachend zu Boden, der Gehäusedeckel flog ab, rollte über die Fliesen der Küche und blieb scheppernd in einer Ecke liegen. „Scheiße!“ Max Balladu bückte sich, fasste das, aus seiner Halterung gesprungene Ende des Armbands, erhob sich nachdenklich das Uhrwerk betrachtend, drehte das Objekt um und sah, dass die Clock stehen geblieben war. „So ein Mist,“ schimpfte Balladu laut, „ausgerechnet jetzt,“ fügte er leiser hinzu. Gerade hatte er damit begonnen, alle Zutaten zum Backen eines Streuselkuchens auf dem Tisch zusammenzustellen.
„Was ist passiert?“ Henni Moritz kam, vorsichtig um die Ecke sehend, in die Küche. Eigentlich hieß die mit Balladu verheiratete Frau Henriette Fabienne Moritz, aber alle Freunde und Verwandten nannten sie Henni, nur ihr Mann sagte fast ausschließlich Moritz zu ihr, was aus seinem Mund anerkennend, fast zärtlich klang.
„Wat denn schon, das Scheißarmband ist wieder kaputt, Henriette.“ Er starte unverändert auf Uhr und Armband.
‚Mann ist sauer,‘ dachte sie folgerichtig, denn Henriette sagte er nur, wenn er sich ärgerte – über sie. Aber was hatte sie mit seiner Uhr zu tun? „Weißt du was, du kannst die achtzig Euro aus dem Wohnzimmerschrank holen, die ich da für eventuelle Notfälle zurückgelegt habe.“ Sie beobachtete ihren Mann, aber der bastelte nur schweigend irgendetwas an dem Armband herum. „Kauf dir endlich eine neue Uhr!“ Nach kurzem Abwarten fragte sie nach, „hast du mich gehört Max?“
„Ich vergreif mich doch nicht an deinem Notgroschen.“
Damit war der Fall für ihn erledigt. Balladu legte die Uhr mitsamt dem nur noch einseitig befestigten Armband seitlich auf den Tisch und widmete sich wieder der Backvorbereitung.
„Hier hast du die achtzig Euro Max,“ sagte die Frau nachdem sie aus dem Wohnzimmer zurückkam. Doch der Mann nahm keine Notiz von ihr und dem Geld- Also legte sie es einfach neben das Armband.
Nachdem der Kuchen fertig war, ging der Mann zu seinem Arbeitsplatz im Keller. Die Moritz warf nur einen kurzen Blick in die Küche. Das Geld war weg.
Um 13 Uhr 30 schritt Balladu die Treppe wieder nach oben, weil die zwei um diese Zeit regelmäßig zu einem Nachmittagsspaziergang aufbrachen. Oben angekommen brummte er, „ich habe das Geld eingesteckt, aber ob ich davon eine Uhr kaufe, wage ich zu bezweifeln.“
Das Ehepaar fuhr meistens mit dem Auto an bestimmte Orte, die ihnen gefielen und gingen dort dann spazieren. Gern besuchten sie in diesem Zusammenhang auch die diversen Einkaufszentren von Halle, wenn vielleicht irgendeine kleine Beschaffung notwendig sein sollte oder einfach nur das Wetter sehr schlecht war. Das Ziel legten sie fast immer erst kurz bevor sie aufbrachen fest. „Und, fahren wir zum Neustadtcenter?“
„Du sollst dein Geld für dich verwenden Moritz. Jetzt will ich das Armband im Geschäft nur wieder an der Uhr anbringen lassen.“
„Dachte ich mir schon, aber das Geld behältst du trotzdem,“ wehrte die Frau sofort ab, weil der Mann Anstalten machte seine Geldbörse aus der Tasche zu ziehen.
„Na gut. Ich behalte es erst einmal.“ Er schob das Portemonnaie wieder in die Tasche zurück. „Eigentlich würde ich viel lieber eine Uhr mit Digitalanzeige haben, aber da finde ich im Internet nur einen einzigen Typ, der auch mit Funk und Solar ausgerüstet ist.“
„Und warum kaufst du die nicht?“
„Die Anzeige ist zu klein.“
Schweigend verließen sie das Haus, stiegen ins Auto, fuhren auf einen Parkplatz nicht zu weit entfernt vom Neustadtcentrum. Zwar wollten die zwei immer noch ein bisschen laufen, aber je älter sie wurden umso besser mussten sie ihre Kräfte einteilen.
„Ich geh am besten allein rein,“ sagte der Mann, als sie vor dem Uhr- und Juwelierladen angekommen waren.
„Sieh dir wenigstens die anderen Uhren an,“ konnte die Frau sich nicht verkneifen zu bemerken. Max verschwand wortlos im Geschäft.
„Wow,“ der Mann kam nach zehn Minuten aus dem Laden, „das junge Weib hat mich besoffen gequatscht,“ söhnte der Mann, „aber weitergeholfen hat sie mir dadurch nicht.“
„Willst du damit sagen, dass das Armband immer noch …“
„Neun Neunzig,“ unterbrach Balladu grinsend und zeigte auf die wieder kurz über seinem Handgelenk befindliche Uhr.
„So teuer dieses Mal?“
„Sie hat einen neuen Splint zur Befestigung des Armbands eingesetzt, weil der andere, alte, nichts taugen würde. – Sagte die Quasselstrippe.“
„Wie oft hast du dieses Armband schon befestigen lassen? Zehnmal, zwanzigmal?“
„Quatsch! Aber vier-fünfmal waren es wohl schon. Auch oben an der Ostsee.“
„Warum löst sich das Armband überhaupt?“
„Es ist noch ein bisschen zu lang. Deshalb rutscht es manchmal, zum Beispiel wenn ich mich bücke, über das Handgelenk. Belaste ich dann das Gelenk indem ich es beuge, steigt der Druck auf das Armband und dann gibt die schwächste Stelle nach. Das ist in der Regel der Splint zur Befestigung am Uhrgehäuse.“ Nach kurzem Nachdenken fügte er noch hinzu, „ich sollte es vielleicht doch noch etwas kürzen lassen.“
„Ich verstehe dich nicht Max. Warum sträubst du dich so eine neue Uhr zu kaufen? Vielleicht gleich mit einem Lederarmband.“
„Zu teuer,“ war die schnelle Antwort. Das klang wie ‚Howgh, ich habe gesprochen!‘ Die Moritz ließ den Mann zufrieden.
„Schlecht ist nur,“ fing plötzlich Balladu von allein wieder an, „dass diese Frau,“ er zeigte kurz mit dem Daumen der rechten Hand über seine Schulter, „nicht auch die losen Buchstaben unter dem Uhrglas herausgeholt hat. Das heißt, dass die Zeiger ab und zu erneut festhängen können.“
„Und dann?“
„Muss ich die Uhr neu starten. Zum Glück weiß ich ja jetzt, nach langem Suchen, recherchieren und probieren,“ Balladu klopfte mit dem Zeigefinger der rechten Hand an seinen Kopf, „was ich bei dieser Watch für einen Neustart tun muss, also ist das kein Problem mehr.“
Der Mann sah zum Laden zurück. „Aber es nervt mich trotzdem.“
„Sag ich doch, kauf dir …“
„Nein!“ Das Nein klang strenger, als der Mann es gewollt hatte, aber er merkte es nicht. „Das mach ich allein – das mit den gelösten Buchstaben und Zahlen,“ dieses Mal klopfte er aufs Uhrglas, „mach ich selber.“
Die Frau schwieg, der barsche Ton hatte ihr weh getan.
Die Rückfahrt verlief schweigend, obwohl sich beide wieder besonnen hatten. Kaum zu Hause angekommen, machte Balladu sich bereits im Wohnzimmer ans Werk. Er setzte sich in seinen Fernsehsessel. Offensichtlich wollte er die Sache schnell hinter sich bringen, obwohl er keine Bedienungsanleitung mehr besaß. Eigentlich wusste er selbst, dass unüberlegtes, unplanmäßiges Handeln meistens in die Hose ging. Das begann bereits damit, dass er nicht wusste, auf welcher Seite die Uhr geöffnet werden musste. Deshalb wog er die zwei Möglichkeiten gegeneinander ab: 1. von vorn über das Uhrglas oder 2. von hinten über den Deckel. Entschlossen setzte er sein Taschenmesser unterhalb des Glases in der kaum sichtbaren Ritze an, drückte energisch und – Zack! – flog die Uhr auf den Teppich. Der einzige Effekt, den dieser Gewaltakt gebracht hatte, war, dass das Armband erneut aus der Halterung gerissen worden war. Allerdings dieses Mal auf der anderen Seite. Schweigend, voller Zorn über sich selbst, stand der Mann auf und stapfte in den Keller, wo er seinen eigentlichen Arbeitsplatz hatte, bestehend aus einem kleinen Tisch und – mit einer kleinen Lücke zum Hindurchgehen dazwischen – einem einfachen Schreibtisch in etwas derselben Größe. Während auf dem einem der Laptop stand, diente der andere der Erledigung von Aufgaben, für die der Mann mehr Platz benötigte, zum Beispiel für die jetzt notwendige Bastelei.
In dem Moment, als die Uhr im Wohnzimmer zu Boden geflogen war, wusste Balladu – abgesehen von seiner Unbesonnenheit – was er falsch gemacht hatte, er würde genau über die andere Seite, also über den Deckel, an das Ziffernblatt herankommen. Innerhalb von fünf Minuten lagen drei ziemlich kleine, goldglänzende Buchstaben und zwei Zahlen auf dem Schreibtisch und die Uhr war wieder montiert. Nur das Armband musste also erneut vom Mechaniker mit dem Halterungsbolzen befestigt werden. ‚Das sind also noch einmal drei Euro, mit einer Verkürzung vielleicht vier,‘ dachte der Mann und ‚aber dann brauche ich keine neue Uhr.‘ Dieses Chronometer, ausgerüstet mit Funk und Solar, war jetzt etwa fünf Jahre alt und bis auf die Probleme mit dem Armband, hatte das Gerät selbst sehr gut funktioniert. Nach der Kürzung saß das Armband fest an seinem linken Unterarm. Ab sofort sollte dieses Problem Armband und Uhr erledigt sein.
Oder etwa nicht?
Balladu setzte sich an den Computer, begann zu schreiben und – verschrieb sich sofort. Das Uhrarmband klemmte am Rand des Laptops fest. Früher brauchte er das lockere Armband nur weiter am Arm hochschieben und schon konnte er weiterarbeiten. Das ging nicht mehr. Als sich der Vorgang erneut wiederholte, ahnte er, dass wohl doch ein neues Armband fällig war. ‚Aber auf keinen Fall eine neue Uhr!‘ dachte der Mann. Bereits bei seinen Recherchen im Internet zu einer neuen Uhr oder wenigstens einem Armband, bei dem er den Umfang so verstellen konnte, dass es sowohl fest als auch etwas lockerer am Handgelenk anliegen konnte, hatte Balladu entdeckt, dass es ein einfaches Handwerkszeug gab, das aussah wie ein Schraubenzieher, aber mit einer u-förmigen Einbuchtung in der sogenannten Klinge. Dem Mann leuchtete sofort ein, dass – vermutlich – damit die Stege viel einfacher anzubringen seien. Entschlossen bestellte Balladu ein braunes Lederarmband mit passenden Stegen und dieses spezielle Uhrwerkzeug im Internet. Nach drei Tage hielt er beides in den Händen. Nach weiteren fünfzehn Minuten konnte er sich zum ersten Mal die Uhr mit dem neuen Armband anlegen.
War jetzt auch diese Problem endlich vom Tisch?
Am Abend des nächsten Tages wusste er es. Der Fall war erledigt.
Aber was machte er nun mit den 80 Euro? Irgendwas Gutes für seinen Moritz, aber was?
Doch das ist eine andere Geschichte.